Schreiben und Lesen im Altisländischen. Kevin Müller
Jahrhunderts. Die Entstehungszeiten der einzelnen Sagas beschränken sich auf das 13. Jahrhundert. Die ältere Redaktion der Kompilation entstand um 1300 und ist in der älteren Handschrift (I) aus der Mitte des 14. Jahrhunderts erhalten. Da die meisten Sagas, aus denen die Kompilation besteht, ausserhalb dieser nicht erhalten sind, lassen sich die Eingriffe der Kompilatoren nicht überprüfen. Die jüngere Redaktion entstand vor oder mit der jüngeren Handschrift (II) in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Dabei muss berücksichtigt werden, dass gewisse Teile nur in nicht direkten Abschriften aus dem 17. Jahrhundert erhalten sind. Bei der Sturlunga saga ist die Nähe zwischen Handlungs-, Entstehungs- und Überlieferungszeit wesentlich grösser als bei der Jóns saga helga. Die Entstehungs- und Überlieferungszeit der beiden Sagas decken sich ausserdem weitgehend, so dass sie sprachlich vergleichbar sein müssen.
3.4. Die Handschriften der Laurentius saga biskups
Die Laurentius saga biskups ist in zwei Pergamenthandschriften (A und B) erhalten, die beide auf dieselbe Vorlage aus der Mitte des 14. Jahrhunderts zurückgehen (vgl. Björnsson 1969: ix). Die Handschrift A mit der Signatur AM 406 a I 4to ist vor der Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden und besteht aus 29 Blättern, von denen in den vier Lagen einzelne fehlen (vgl. Björnsson 1969: ix–xi). Die Handschrift B mit der Signatur AM 180 b fol. enthält neben der Laurentius saga biskups auch Fragmente der Konráðs saga, Dunstanus saga und Katrínar saga, Bærings saga fagra und Teile der Knýtlinga saga und Vítus saga. Die Handschrift könnte paläographisch aus dem 15. Jahrhundert stammen oder sogar frühestens um 1400 entstanden sein. Dagegen spricht aber das Vertauschen der Grapheme <i> und <y>, was sonst erst ab 1500 nachzuweisen ist, nachdem die Vokale /i/ und /y/ in /i/ zusammengefallen sind. Zudem gibt es Briefe aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit ähnlicher Schrift, so dass diese Handschrift sehr wahrscheinlich aus dieser Zeit stammt (vgl. Björnsson 1969: xxvii–xxix).
Die Laurentius saga biskups wird in dieser Arbeit nach der kritischen Edition mit Apparat von Björnsson (1969) zitiert. Daneben gibt es eine neuere normalisierte und kommentierte Edition von Grímsdóttir (1998), welche die beiden Redaktionen trennt und für weitere Informationen konsultiert wird. Die einzige Übersetzung der Laurentius saga biskups stammt von Jørgensen (1982) ins Dänische, die beide Redaktionen auseinanderhält. Bei der Laurentius saga biskups sind die Handlungszeit um das Jahr 1300 und die Entstehungszeit Mitte 14. Jahrhundert relativ nahe beieinander, die Überlieferungszeit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts aber relativ spät. Diese Saga ist also bezüglich Handlung, Entstehung und Überlieferung deutlich jünger als die anderen beiden Sagas.
1. Der mittelalterliche Wortschatz des Schreibens
Während die Themenfelder Schriftsystem, Schriftlichkeit, Schriftkultur, Schriftträger, schriftliche Texte und Lesen schon seit langem in der Linguistik, Kodikologie, Paläographie, Philologie, Anthropologie, Literatur- und Geschichtswissenschaft grosses Forschungsinteresse erfahren haben, ist der Akt des mittelalterlichen Schreibens viel weniger gründlich untersucht worden (vgl. Ludwig 2005: 2). Dabei unterscheiden sich die damaligen Schreibpraktiken von den heutigen in vielen Aspekten, denn im Mittelalter waren Schreiben und Verfassen zwei getrennte Prozesse, die sich erst im Laufe des Spätmittelalters vereinten. Das Konzept SCHREIBEN beinhaltete lediglich auf- oder abschreiben, während VERFASSEN einen rhetorischen Akt darstellte, d.h. der zu schreibende Text wurde als Rede konzipiert. Dazu gehören in der klassischen Rhetorik drei Schritte 1. die inventio, die Findung der Gedanken, 2. die dispositio, die Organisation in einen Text, und 3. die elocutio, die Ausformulierung in einzelnen Sätzen und Wörtern, welche zum Schluss dem Schreiber diktiert wurden (Beleg Ludwig 2005: 68). Diese Praxis äussert sich auch im lateinischen Wortschatz, denn scribere bedeutet allein ‚aufschreiben‘. Für das Diktieren wurde im klassischen Latein das Verb dictare verwendet und das Verfassen floss Ende der römischen Kaiserzeit in die Bedeutung von dictare ein, so dass sie sich vom ‚Diktieren‘ auf das ‚Verfassen‘ erweiterte (vgl. Ludwig 2005: 131f.). Die unterschiedlichen Konzepte VERFASSEN und SCHREIBEN widerspiegeln sich also in den mittellateinischen Verben dictare und scribere. Beim Schreiben spielt nicht nur die Unterscheidung in Schreiben und Verfassen eine Rolle, sondern auch der Anteil des Eigenen und Fremden im Geschriebenen. Der Scholastiker Bonaventura unterscheidet dabei in vier Rollen scriptor, compilator, commentator und auctor. Der scriptor schreibt nur ab, also nichts Eigenes. Beim compilator und commentator ist der Anteil an Eigenem kleiner als jener des Fremden, wobei der commentator das Eigene als Erklärung hinzufügt. Beim auctor ist dieses Verhältnis von Eigenem und Fremdem hingegen umgekehrt ist (vgl. Ludwig 2005: 146). Ludwig geht nicht darauf ein, wie sich dieses Verhältnis von Eigenem und Fremden bei den verba scribendi widerspiegelt.
Noch im 12. Jahrhundert diktierten die Autoren ihre Werke mehrheitlich einem Schreiber, welche das Diktat auf einem Wachstäfelchen festhielten und dann auf dem Pergament ins Reine schrieben. Das 13. Jahrhundert stellt eine Übergangsphase dar, in dem immer mehr Autoren ihre Texte selbst schrieben. Schreiben und Verfassen wurden, wie es die Paarformel scribat et dictat ‚er/sie schreibt und diktiert/verfasst‘ zeigt, lexikalisch noch getrennt, wobei beide Handlungen von derselben Person ausgeführt wurden. Im 14. Jahrhundert wurde das selbständige Schreiben der Autoren allmählich die Regel, was sich dann auch auf die Bedeutung von scribere gegen Ende des Mittelalters auswirkt (vgl. Ludwig 2005: 127–132). Beim Briefeschreiben übernahm der Schreiber schon früher die elocutio, weil die inventio vom Absender und die dispositio vom Briefformular vorgegeben waren. Schon Ende des 13. Jahrhunderts wurde von Beamten erwartet, dass sie Briefe verfassen (dictare litteras) konnten (vgl. Ludwig 2005: 149–152).
Innerhalb der nordischen Philologie wurden bisher zwei Themenbereiche des Schreibens näher untersucht: das Schreiben von Runen und das Schreiben der mittelalterlichen Autoren. Obwohl diese Forschung nicht um den Wortschatz herumkommt, ist der mittelalterliche Wortschatz des Schreibens im Gegensatz zum Schreiben der Runen nie systematisch im Rahmen eines grösseren Korpus untersucht worden, sondern es wurden meistens einzelne Belege herangezogen. Im Folgenden soll diese Forschung kurz abgerissen werden, von den Runen ausgehend, denn die Geschichte der Schrift beginnt im Norden Europas mit diesem Schriftsystem, dessen älteste Funde aus der Zeit um 200 n.Chr. stammen. Im Gegensatz zum Schreiben der lateinischen Schrift ist jenes der Runen relativ gründlich von Linguisten erforscht worden: Schulte (2002) untersucht das Wortfeld der Runenproduktion („semantic field of runic production“) in der urnordischen Periode. Dabei kommen drei semantisch weite verba faciendi vor: *taujan/tawōn ‚machen, vorbereiten, herstellen‘, *wurkijan ‚machen, tun, arbeiten‘ und *dālijan (ein Hapaxlegomenon, vermutlich mit der Bedeutung ‚machen, herstellen‘). Ihnen fehlt zum Teil das Akkusativobjekt, so dass nicht zu entscheiden ist, was eigentlich gemacht wurde, die Inschrift, der Schriftträger oder etwas anderes. Die Verben *taujan/tawōn und *dālijan sind in der altnordischen Periode nicht mehr bezeugt, *wurkijan lebt dagegen phonologisch und semantisch verschoben als yrkja ‚dichten‘ weiter. Gemäss Schulte (2002: 58f.) gilt diese Bedeutung für die urnordische Periode nicht, als das Verb die Bedeutung ‚machen, tun; arbeiten‘ wie die Kognaten in anderen älteren germanischen Sprachen wie got. waurkjan, aengl. wyrcian oder ahd. wurchen hatte. Es lässt sich auch nicht beweisen, dass diese Bedeutungsverengung von ‚machen‘ zu ‚dichten‘ mit dem in urnordischer Zeit häufig belegten Akkusativobjekt rūnō(z) ‚Rune(n)‘ zusammenhängt, indem das Verb seine Bedeutung vom äusserlichen Machen der Schrift auf das inhaltliche Machen von Texten oder Gedichten verengt hat. Eine engere auf handwerkliche Tätigkeiten bezogene Bedeutung haben die beiden Verben *talgijan ‚kerben, ritzen, schnitzen‘ und *faihijan ‚malen, schmücken‘. Sie referieren auf das Einritzen und Bemalen der Inschrift, sind aber weitgehend synonym mit den verba faciendi (vgl. Schulte 2002: 660). Das Verb par excellence für das Schreiben von Runen ist das relativ häufig belegte *wrītan, das mehrfach mit dem Akkusativobjekt rūnō(z) ergänzt ist (vgl. Schulte 2002: 661). Die Verben *faihijan und *wrītan kommen als anord. fá und ríta in wikingerzeitlichen