Der Messias vom Stamme Efraim. Moische Kulbak
»Der … der Mann, der unter die Säge gekommen ist.«
Reb Levi starrte ihn mit glasigen Augen an:
»Was für eine Säge? Ach, jene Säge? Woher weißt du das eigentlich? Wie?«
Und er griff sich an den Kopf, wurde kreidebleich und stürzte ins Nebenzimmer.
Die Besucher blieben beim Geldschrank stehen. Leah lief aus der Finsternis auf ihren Vater zu. Zitternd warf sie sich ihm an den Hals:
»Papa, was ist Papa?«
Und sie begann leise zu weinen.
Reb Levi blickte sich um und wußte nicht, wie ihm geschah. Langsam löste er sich aus den Armen seiner Tochter, holte tief Luft und blickte durch die offene Tür ins Zimmer nebenan.
»Was geht hier vor? Leah, weißt du es nicht?«
Bedächtig knöpfte er seine Jacke zu und wirkte mit einem Mal größer. Er streckte sich und blieb ein Weilchen ruhig stehen. Dann kehrte er mit großen Schritten ins erste Zimmer zurück.
Die Besucher standen noch beim Schrank. Sie musterten ihn mit kalten Blicken. Offenbar hatten sie seine Rückkehr erwartet. Er sagte ihnen ruhig und gelassen:
»Es hat ihm weh getan, meine Herren, weil es ihm weh tun sollte. Und jetzt geht!«
Sie antworteten nicht. Er hieß sie gehen, also gingen sie, doch in ihnen kochte es. Reb Levi stellte sich neben die Tür, um seine Besucher hinauszulassen.
»Geht«, sprach er, »und richtet dort aus – ich, Levi Pataschnik, habe gesagt: ›Wen kümmert es!‹ Hört ihr? – Wen kümmert es!«
Und damit schlug er die Tür hinter ihnen zu. Einige Male ging er noch gedankenversunken auf und ab, dann setzte er sich wieder in seinen Lehnstuhl, als wäre nichts geschehen.
Wie er so dasaß und zum Fenster schaute, rief er nach Leah, die irgendwo hinter ihm stand. Er zog die erwachsene Tochter zu sich auf den Schoß:
»Hast du Klavier gespielt?«
»Ja.«
»Bist du im Garten spazierengegangen?«
»Ja.«
»Und möchtest du ein neues Kleid haben, Närrchen?«
Aber Leah war noch ganz verwirrt, und so sagte sie:
»Papa, ihr Messias ist besser!«
Sie erschrak über ihre eigenen Worte. Reb Levi sah sie mit schreckgeweiteten Augen an. Sie rückte von ihm ab und lief eilends zurück in ihr Zimmer.
Gimpel, der Philosoph
»Hörst du, Benje, im Spätsommer, wenn das reife Obst seinen Duft verbreitet, ist es nicht schlecht, auf der Welt zu sein.« So sprach Simche Plachte.
Reb Benje antwortete nicht, er stand auf einem Holzklotz am Herd und kochte Kartoffeln. Reb Simche saß hinter ihm am geschlossenen Fenster. Die Pfeife im Mund, schaute er auf den Weg hinaus.
Der Weg glühte im Sonnenlicht, Kiesel funkelten im Sand.
Simche Plachte saß da und blickte ins Weite, denn eine Gestalt war in der Ferne aufgetaucht. Auf dem Weg näherte sich ein dünner Bursche mit einem Wanderstab.
Reb Simche meinte:
»Sieht aus, als ob da jemand käme.«
Doch Reb Benje antwortete nicht, er kochte Kartoffeln.
Simche öffnete das Fenster und schaute hinaus. Der Fremde winkte ihm zu.
Ein lustiger Wandersmann war das, er tänzelte beim Gehen, und schon von weitem hörten sie, was für schöne Lieder er sang.
Es war Gimpel Saßkewitzer, ein närrischer »Philosoph«.
Wie er zur Mühle kam, trällerte er ein fröhliches Liedchen:
»Seht ich bin ein Taugenichts,
Und mit meinem Stecken,
Tralali und tralala,
Klopf ich alle Hecken.
Komm ich auf ein Gasthaus zu,
Klopf ich an und grüß ich.
Fragt der Schankwirt, was ich tu,
›Was wohl, ich geh müßig‹ …
›Müßiggehen schon so früh!
Tagedieb!‹ so schreit er,
Tralala und tralali,
Und so geh ich weiter.
Wenn ich einen Brunnen seh,
Trinke ich sein Wasser,
Und im Morgengrauen steh
Ich als Hahn, als nasser.
Fährt ein Bauersmann vorbei,
Tadelt er mein Leben.
Ich versteh ihn nicht und schrei:
›Leben, Streben, Beben …‹«
Er trat in die Stube, wie man zu sich nach Hause kommt, stellte den Wanderstab in die Ecke, legte sein Bündel ab und sagte:
»Guten Morgen, ihr Juden!«
»Guten Morgen und ein gutes Jahr!«
Der Neuankömmling drehte sich auf hohen Absätzen herum, zog sein rotes Halstuch fest und fragte mit einem Lächeln:
»Habt ihr was zu beißen da, Freunde?«
»Was zu beißen? Man wird Euch schon zu beißen geben, aber sagt uns zunächst, wer Ihr seid, junger Mann.«
Gimpel ging keiner festen Arbeit nach, er frönte dem Müßiggang, doch keine Sorge, er hatte eine flinke Zunge:
»Ich bin ein Philosoph. Ein großer Philosoph!«
»Und achtet nicht darauf«, meinte Gimpel weiter, »daß meine Knie durchgescheuert sind. Mein Anzug war einmal mit Punkten gepunktet und mit Streifen gestreift, jawohl!
Und die Mädchen lieben mich, weil ich schön bin! Schade, daß Reb Simche schon alt ist, so weiß er nichts mehr vom Geschmack junger Mädchen:
Junge Mädchen gleichen frühen Tagen,
Über die sich Morgennebel legt.
Mädchen sollten ihre Brüste tragen,
Wie ein Apfelbaum die Äpfel trägt.«
Das Lied verwirrte Reb Simche, er rieb sich die Hände und wurde rot. Jetzt saß Gimpel auf hohem Roß. Beglückt von seinem Triumph, schnatterte er:
»Ich, Gimpel, habe einen neuen Stern am Himmel entdeckt.«
Plötzlich drehte sich Reb Benje zu ihm um und schrie wie ein Besessener:
»Zwei Sterne!«
»Nein, nur einen – und heißen wird er: Gimpelinus.«
»Zwei Sterne«, brüllte Reb Benje, »auf dem einen saß ein weißer Mann und auf dem zweiten ein schwarzer.«
»Nein, ohne Menschen.« Einen Stern hatte er entdeckt und ohne Menschen.
Reb Benje spie aus und ging zornig zurück an den Herd. Dort machte er sich wieder am Feuer zu schaffen, und nach einer Weile sagte er laut zu sich selbst:
»Der Bursche lügt!«
Gimpel stand da, wie vom Donner gerührt. Ihm war erbärmlich zumute. Er fühlte sich ertappt. Vor Scham rieb er sich die Augen und räumte ein:
»Mag sein, daß irgendwo da draußen noch ein Stern ist, der erst noch entdeckt werden muß. Ich, Gimpel, bin wahrhaftig kein Sternengucker, ich bin Philosoph. Hier, in der Brusttasche, habe ich meine ganze Philosophie zu Papier gebracht.
Wenn