Wölfe. Philipp Probst
hatte auch sie den Titlisgletscher bezwungen.
Als sie nach dem ziemlich anstrengenden Fussmarsch den Trübsee erreichten, stärkten sich alle im Restaurant mit Suppe, Rösti oder Pommes frites. Selma schaute ihre Bilder durch – und war nicht zufrieden. Die Fotos waren okay. Aber nicht gut. Nicht gut genug für Selma. Es reichte ihr nicht, dass die Freerider gut zu sehen waren, dass die Pulverschneeflocken vor dem blauen Himmel glitzerten und alles scharf und richtig belichtet war. Selma fehlte die atemberaubende Pose, der magische Augenblick.
«Können wir das Ganze wiederholen?», fragte Selma. «Und ich bitte euch: Zeigt noch mehr Freude. Lacht!»
Lasse schaute zu Ole. Die beiden diskutierten kurz auf Schwedisch. Selma verstand nur die Wörter Sonne und Wärme und Risiko. Doch schliesslich wandte sich Lasse zu Selma und sagte: «Okay!»
Als alle wieder oben auf dem Titlis standen, war es Nachmittag. Die Sonne brannte nun kräftig und liess den Schnee matschig werden. Die Touristen trugen nur noch T-Shirts. Lasse hatte recht, dachte Selma: Es wurde tatsächlich ein wunderschöner Tag mit deutlichem Temperaturanstieg.
Selma machte bei der zweiten Fotosession am ersten Punkt fantastische Aufnahmen. Sie achtete vor allem darauf, dass sie Ole und Debby perfekt fotografieren konnte. Ole riss seine Arme nach oben und lachte. Debby spreizte ihre Beine wie eine Tänzerin. Selma war zufrieden. Sie hatte den magischen Augenblick, die unglaubliche Freude, die Passion, eingefangen.
Als sie mit Lasse am Treffpunkt eintraf, bedankte sie sich bei allen für die Action. Sie hätte nun wirklich die ersten tollen Bilder im Kasten. Sie verstaute ihre Fotoausrüstung im Rucksack. Die Freerider klatschten sich ab.
Nur Ole machte ein etwas grimmiges Gesicht. «Leute, alle zuhören!», sagte er im Befehlston. «Wir müssen so schnell wie möglich runter von diesem Gletscher. Fotos können wir keine mehr machen, Selma, sorry. Es ist zu warm, und wir sind ziemlich weit unten. Wir sind fucking spät dran. Kapiert? Und wegen des Neuschnees sehen wir nicht alle Spalten. Wir nehmen die sichere Variante. Haltet Abstand! Selma, du folgst mir und hältst dich genau in meiner Spur. Dann alle anderen. Debby, machst du das Schlusslicht?»
Debby nickte. Selma schaute besorgt zu Lasse. Er grinste. Aber sein Grinsen war nicht echt.
«Was ist los?», fragte Selma leise.
«Mach einfach, was Ole gesagt hat, dann passiert nichts, er kennt diesen Berg am besten von uns allen.»
«Forderte dieser Berg nicht auch schon seine Opfer?», fragte Selma und wurde sich bewusst, wie unvorbereitet sie in dieses Abenteuer gestartet war.
«Selma, cool down», sagte Lasse und klopfte sanft auf ihren Helm. «Vergiss nicht: Alles easy!»
Selma beobachtete Ole, wie er über den Gletscher fuhr.
Nach einigen Sekunden schrie Lasse: «Go, Selma, go!»
Sie fuhr los. Die Schwünge gelangen ihr prächtig. Sie tanzte. Alles war easy.
Zu easy.
Plötzlich hängte sie mit ihrem Ski an einer Eisscholle unter dem Neuschnee ein, verlor kurz das Gleichgewicht, musste Oles Spur verlassen, erkannte eine Gletscherspalte auf der linken Seite, drehte rechts ab, sah jedoch, dass auch hier eine Spalte war. Doch zum Glück gab es eine Schnee- und Eisbrücke, sie fuhr darüber – und brach ein.
Sie stürzte. Sie schrie.
Ein heftiger Schlag. Sie hing irgendwie fest. Schnee flog ihr ins Gesicht. Einen Moment lang war alles dunkel. Dann wurde es langsam wieder hell. Selma wurde sich bewusst, dass sie in eine Gletscherspalte gefallen und eingeklemmt war. Sie spürte, wie das Blut in ihren Kopf strömte. Der Grund wurde ihr schnell klar: Ihre Skis waren nicht mehr unten, sondern oben. Sie hing mit ihrem Kopf nach unten in der Spalte. Um sich herum sah sie nur Eis. Selma schaute zu ihren Füssen und konnte tatsächlich zwischen den Schuhen und Skis hindurch den Rand der Spalte und darüber ein Stück blauen Himmel sehen. Sie schätzte, dass sie etwa drei Meter unter der Oberfläche festhing.
«Selma!», hörte sie Lasse rufen. «Alles okay?»
«Ich bin hier!», rief die Reporterin.
«Okay, ganz ruhig. Wir holen dich raus. Kein Problem.»
Ich bin doch ganz ruhig, dachte Selma. Da komme ich schnell wieder hinaus. Doch dann drehte sie den Kopf Richtung Abgrund. Sie sah ein tiefes blau-schwarzes Loch. Sie geriet in Panik: «Hilfe!» schrie sie aus Leibeskräften.
«Bist du verletzt?», rief Lasse in die Spalte.
«Hilfe!», schrie Selma erneut. «Hilfe!» Sie bewegte dabei ihr rechtes Bein ein bisschen. Selma rutschte einige Zentimeter in die Tiefe. Doch die Skis verkanteten sich erneut. «Hilfe!», schrie sie.
Plötzlich noch ein Ruck. Und die Bindung des rechten Skis löste sich.
Selma fiel ins blau-schwarze Loch.
6
Charlotte Legrand-Hedlund führte an diesem Nachmittag ein äusserst amüsantes und erfreuliches Telefonat. Obwohl das Gespräch nicht lange dauerte, hatte sie danach einen lästigen Pfeifton in ihrem linken Ohr. Der Gesprächspartner sprach sehr laut, eigentlich brüllte er.
Nun betrat Charlotte lächelnd Leas Coiffeursalon, an dessen Wänden immer noch Selmas Bilder hingen. Charlotte ging zu Leas Kasse und schnippelte mit der Schere einen Zettel zurecht, kritzelte «Verkauft» darauf und pinnte das kleine Schild mit einer Nadel unter Selmas grösstes Bild. Es war jenes Gemälde, das die Alp hoch über dem Lauenensee im bläulich-weissen Licht des Mondes zeigte. Das Preisschild mit dem Betrag 8500 Franken liess sie stecken.
«Du hast ein Bild verkauft, Charlotte», stellte Lea erfreut fest.
«Natürlich. Und ich werde noch weitere verkaufen.»
«Schön. Selma wird sich freuen.»
«Ich weiss nicht», sinnierte Charlotte.
«Warum nicht? Wer ist der Käufer?»
«Er will unbekannt bleiben. So wie es sich für einen echten Kunstkenner gehört.» Sie lächelte und verdrehte die Augen.
«Was willst du mir sagen, Charlotte?»
«Ach nichts. Aber weisst du, Selma tut sich schwer mit dem Verkauf ihrer Bilder. Sie hatte schon Mühe mit der Vernissage. Aber bon, hast du Zeit für mich?»
«Natürlich. Für dich immer.»
Lea rief ihre Lehrtochter, die Charlottes Haare wusch. Unterdessen kümmerte sie sich um das Finish einer anderen Kundin. Nach dem Waschen konnte Charlotte den Platz wechseln und setzte sich in Leas Frisierstuhl mit Blick auf den Rhein. Lea kämmte Charlottes Haare und fragte, ob sie die gleiche Bobfrisur wie immer haben möchte. Sie wusste natürlich die Antwort und ergriff die Schere. Charlotte war zwar eine anspruchsvolle Kundin – es ging beim Schnitt um Millimeter –, aber sie war längst nicht so kompliziert wie Selma.
«Ihr hattet nach der Vernissage noch einen vergnüglichen Abend», begann Lea das Gespräch. «Und er dauerte ziemlich lange.»
«Oh ja, es war reizend.» Der weitere Verlauf war wie immer mit Charlotte: Es war ein gepflegter Smalltalk. Bis Charlotte überraschend fragte: «Bei dir und deinem Partner Georg ist alles in Ordnung?»
Lea zuckte und schnitt sich beinahe in den Finger. «Ja, alles bestens. Warum fragst du?»
«Georg schien mir etwas durcheinander zu sein.»
«Durcheinander?»
«Ist vielleicht das falsche Wort.»
Lea hielt mit dem Frisieren inne, stellte sich vor Charlotte ans Fenster und fragte: «Wie lautet denn das richtige Wort?»
«Wie soll ich sagen, er suchte … Nähe.»
Lea liess ihre Schere nervös auf und zu schnappen und sagte: «Du meinst, Georg hat Selma angebaggert?»
«Mais