Himmel. Sandra Newman

Himmel - Sandra  Newman


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      »Das Messer haben wir noch«, sagte Ágota. »Aber ich wüsste nicht, dass ihr damit an meinen Möbeln zugange wart.«

      Kates Kopf tauchte neben Bens Knie auf, zerzaust und mit einem Lächeln. »Ich kann sie nicht finden.«

      »Wie sahen sie denn aus?«, fragte Ben.

      »Mein Bruder, Petey, hat ein Peace-Zeichen gemacht, und ich wollte einen Falken schnitzen, aber am Ende sah er aus wie eine Robbe. Wir haben so getan, als wären wir adlige Herren aus dem Mittelalter. Mein Siegel war der Falke und seines das Peace-Zeichen.«

      »Das hat nie stattgefunden«, sagte Salman lächelnd zu Ben.

      »An das Spiel kann ich mich erinnern, aber ich verstehe nicht ganz«, sagte Ágota. »Habt ihr beide wirklich in die Tischbeine geritzt?«

      »Ja, haben wir«, sagte Kate. »Aber es ist weg. Da ist nichts.«

      »Gott sei Dank«, sagte Ágota.

      Kate flüsterte Ben zu: »Wir haben die Siegel wirklich gemacht. Das macht mich ein bisschen verrückt.«

      »Das hat nie stattgefunden«, sagte Salman.

      Im Treppenhaus, auf dem Weg nach draußen, sagte Ben: »Ich mag deine Eltern.«

      Sie blieb auf der Stufe unter ihm stehen. »Also wirst du mich jetzt nicht verlassen?«

      Er lachte und nahm sie in die Arme. Sie küssten sich. Das Treppenhaus roch nach kaltem Staub, und das Fenster war schmutzig, deshalb sah auch das Licht schmutzig aus, aber sie beide leuchteten klar wie ein Juwel in diesem Licht, das irgendwie fern und nah zugleich war. Als Kind hatte er vom Rücksitz des Autos seiner Eltern die fernen Lichter der Ortschaften gesehen, und die Lichter waren bunt und verwunschen gewesen, köstlich wie verzauberte Früchte. Er hatte sich vorgestellt, dass es magische Orte wären, die man mit dem Auto seiner Eltern niemals erreichen würde. Nur Ben könnte eines Tages dorthin gelangen, wenn er mutig genug wäre, wenn er nur fest daran glaubte.

      Zwei Wochen später zogen Ben und Kate zusammen. Für eine sehr lange Zeit war alles gut zwischen ihnen. Der Herbst war wunderschön.

       8

      Dann kamen die Wochen, in denen sie nicht in den Traum zurückfand. Sie wachte neben Ben auf und war kurz davor gewesen. Sie wachte neben Ben auf. Und wieder, mit dem Nichts, das geschehen war. Mit Ben.

      (Einmal jedoch schien es, als hätte sie von einer Herberge geträumt. Finster betrachtete sie sie von oben, wie eine Fledermaus – aber zugleich war sie auch Emilia, ganz klein, dort unten. Es war Nacht, und der Himmel zerstreute sich zu Regen, der wie eine sichtbare Dunkelheit fiel, ein Gleißen, wo kein Licht war. Die Fenster der Herberge waren verriegelt, blind. Von der Traufe strömte es geräuschvoll. Ein halbes Dutzend Pferde und Maultiere standen mit ihren aufsitzenden Reitern in dem überfluteten Hof. Einige weitere Gestalten liefen umher. Emilias Pferd trat neben ihr von einem Bein aufs andere, nervös von dem Geschrei.

      Es war ein Streit im Gange, während ihr Rücken unerträglich schmerzte; ihre Bediensteten brüllten und schlugen gegen die Fensterläden, weil der Wirt Ihnen nicht öffnen wollte, aus Furcht, dass sie aus London die Pest mitgebracht hatten. Da war Mary, die kreischte, wie es sich für eine Dienstmagd unter keinen Umständen gehörte, und mit ihren kleinen Fäusten an die Tür hämmerte; sie schwor, dass sie alle brennen würden wie Zündhölzer, wenn ihre Herrin ob dieser außergewöhnlichen Herzlosigkeit stürbe. Hinter ihr stand der Hausknecht Arthur, der gegen die Demütigung anzulächeln versuchte und sich den Regen aus den Augen blinzelte. Sein Hut war formlos, durchweicht, ein tropfender Kopf.

      Kate redete im Schlaf. Sie erteilte Befehle und weinte unter dem alles übertönenden Regen. Sie gingen …

      gingen nach, flüchteten zu – Der Name der Ortschaft, Horne, wiederholte sich in ihrem Kopf, bis sie Hörner vernahm. Vielleicht waren die Hörner echt. Horne, Surrey. Hörner in der kalten Nacht … mit he und ho und mit Regen und Wind. So kalt.)

      (Dann ein langer Eindruck vom Reiten im Regen, der den dämmernden Morgen verdunkelte, von einem kneifenden Druck, der plötzlich nachließ)

      (wenn ihr Kind überleben würde)

      (ein Bett und an ihrem Ohr Marys wütende Gebete, damit die heilige Margareta Emilia nicht den Tod erleiden ließe, weil doch schon Marys gute Mutter hatte sterben müssen, in ihrem Blute, das über den Boden rann und das schreckliche Kind so tot und blau)

      und Kate versuchte, sich durch ihren schwarzen Schlaf hindurchzuträumen, und fast gelang ihr der Durchbruch zu den Schreien der Geburt, die sie auswrang und bluten ließ, die Decken mit Schweiß tränkte – doch sie wachte niemals dort auf, nur bei Ben und dem Nichts. Sie fühlte die durchdringende Stille der Abwesenheit von Schmerz.

      In ihrem wachen Leben wurde sie hartnäckig von Anomalien, Diskrepanzen und Anfällen von Jamais-vu verfolgt. In jeder Straße gab es neue Läden und Restaurants, die in einem Tempo aus dem Boden schossen, das selbst für New York unmöglich schien. Sie erkannte die meisten Lieder im Radio nicht. Sie kannte höchstens die Hälfte aller Filmstars. Sie ging zum Co-op, um Zimtäpfel zu kaufen, und die Mitarbeiter hatten noch nie von Zimtäpfeln gehört, obwohl Kate erst in der vorigen Woche genau dort welche gekauft hatte. Sabines Freundin, die Kongressabgeordnete aus Maine, die seit Kate sie kannte graue Haare gehabt hatte, war mit einem steifen blonden Pagenkopf in einer Fernsehübertragung zu sehen gewesen, und als Kate es Sabine gegenüber erwähnte, sagte diese: »Sie hatte schon immer diese Wetteransagerinnen-Frisur.«

      All das waren Dinge, die Kate vielleicht irgendwie einfach durchgerutscht waren. Sie war schon immer zerstreut und weltfremd gewesen. Es wäre typisch für sie.

      Aber sie wusste es. Und eines Nachts, als sie betrunken genug war, um zu glauben, er würde verstehen, was es bedeutete, versuchte sie, es Ben zu erklären. Sie fuhren nach einer Party mit der U-Bahn nach Hause, waren beschwipst und müde und zu glücklich, um etwas zu lesen, und Kate erzählte Ben wieder von dem Traum. Sie sagte, sie wisse durchaus, dass er keinen Einfluss auf die Realität habe. Sie sei nicht wirklich in die Vergangenheit gereist – natürlich nicht. Aber dennoch hätten sich Dinge verändert, genau so, als wäre es doch echt, als wäre sie ins sechzehnte Jahrhundert gereist und hätte dort etwas getan, was den Lauf der Geschichte veränderte.

      Ben sagte: »Ich habe auch noch nie etwas von Zimtäpfeln gehört.«

      »Ich dachte … erinnerst du dich an den Schmetterlingseffekt? Damals?«

      »Also, ich weiß, was das ist.«

      »Nein, an dem Abend, an dem wir uns kennengelernt haben, hast du mich damit aufgezogen.«

      »Das habe ich wohl vergessen.«

      Dann stiegen Kate Tränen in die Augen und sie starrte aus dem Fenster. Der Zug rumpelte durch die von aufblitzenden Graffiti unterbrochene Dunkelheit. Vielleicht waren diese Graffiti schon immer dort gewesen. Sie hatte sie noch nie gesehen, aber es könnte sein, dass sie vorher auch da gewesen waren.

      »Alles in Ordnung?«, fragte Ben.

      »Ich muss nur daran denken, dass das, was man vor vierhundert Jahren getan hat, Auswirkungen hat. Völlig egal, wie belanglos die Sache war. Das ist der Schmetterlingseffekt. Ich glaube, das könnte ich erlebt haben.«

      Ben lachte. »Flieg nach Hause, Schmetterling. Du bist betrunken.«

      Noch nie hatte Kate einem Mann Vorwürfe gemacht, und sie machte auch Ben keine. Er konnte nicht wissen, was nur Kate gesehen hatte. Aber eine gewisse magische Aura, die ihn umgeben hatte, erlosch in jenen Tagen. Sie erkannte ihn als den Menschen, der er wirklich war: ein gewöhnlicher Mann, dessen Bedürfnisse sie erfüllte; vielleicht war es Liebe. Sie wollte ihn noch immer. Sie suchte seine Nähe, wenn sie aufwachte, und der Körperkontakt spendete ihr Trost. Er war ihr irdischer Körper.

      In der Dunkelheit umarmte sie ihn, wartete auf den Schlaf und dachte über den Traum nach. Sie versuchte, seine Bedeutung zu erahnen, und stets fielen ihr


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