Himmel. Sandra Newman
»Meinetwegen. Mir doch egal.«
»Mir nicht«, sagte Kate, ging der Sache aber nicht weiter nach. Sie lächelte Sabine an, lächelte Ben an, die drei großen Männer, die verschwörerisch zurück lächelten.
»Ich will keine Umstände machen«, sagte Ben.
Da veränderte sich Sabines Ausdruck. Sie grinste, zauste Kate das Haar und sagte zu Ben: »Du wirst keine Umstände machen müssen, wenn du mit der hier schläfst. Dafür wird sie schon sorgen.«
Kate lachte fröhlich und sah Ben an, als hätte sie ein Kompliment erhalten. Die drei Männer sahen allesamt zu Kate, betrachteten sehnsüchtig drei verschiedene Teile ihres Körpers. Sabine sagte: »Viel Spaß«, wandte sich kategorisch wieder den drei Männern zu und nahm das vorangegangene Gespräch wieder auf. Widerstrebend lösten sie ihre Blicke von Kate.
Also nahm Ben sie mit wie eine Trophäe, die er für den Sieg über die drei Männer erhalten hatte, oder, anders betrachtet, er folgte ihr bereitwillig die Treppe hinauf, in vollkommener und anhaltender Hörigkeit.
Die Dachterrasse war aus hellem Massivholz und wurde von einem schlichten gusseisernen Geländer umfasst. Es gab einen Grill, einen Picknicktisch und hölzerne Gartenstühle. Ben erkannte kein Zeichen von Reichtum, wobei er auch nicht sicher war, was er erwartet hatte. Einen Brunnen? Es gab Gartengerät, aber keinen Garten, nur eine Reihe von Topfpflanzen vor dem Geländer – genauer gesagt mehrere Exemplare ein und derselben Pflanze, ein struppiges helles Grasgewächs mit einem leichten Violettstich. Die Luftmatratze, ein grünes Quadrat aus Planenstoff ohne Laken oder Decken, lag neben diesen Pflanzen. Sie war bereits aufgepumpt, und Kate setzte sich ohne zu zögern darauf, blickte Ben voller Ernst an, als forderte sie ihn auf, an einem großen Moment teilzuhaben.
Er kam zu ihr und setzte sich. Seine aufwallende Lust war verschwunden. Er rechnete ohnehin damit, dass sie sich noch dreißig Minuten unterhalten würden, bevor irgendetwas passierte. Und tatsächlich begann Kate, über das Gras in den Töpfen zu reden – es handele sich um eine bedrohte Art, deshalb sei die Dachterrasse für die Partygäste verschlossen geblieben und möglicherweise sei das auch der Grund, warum Sabine die Idee, Ben aufs Dach zu lassen, nicht mit Begeisterung aufgenommen habe, denn das Grasgewächs sei illegal. Ein Freund des Neuseeländers, ein Bergbau-Manager, habe es in seinem Firmenjet eingeschmuggelt. Es sei verboten, das Gras außer Landes zu bringen, was in diesem Fall allerdings dazu beitragen solle, das Gras vor dem Aussterben zu bewahren, ein Schicksal, dass ihm in seiner – vom Bergbau verwüsteten – Heimatregion in Argentinien bald bevorstünde. Auch die Topferde stamme aus Argentinien. So etwas passiere Sabine einfach – auf einmal falle es ihr zu, geschmuggelte Gräser zu hegen.
Pflichtschuldig betrachtete Ben die Gräser, die – wie er nun bemerkte – in zwei unterschiedlichen Arten von Töpfen wuchsen. Manche waren gewöhnliche Tontöpfe, manche waren grüne Zelluloidtöpfe, die in ihrer Form Tontöpfe imitierten. Er machte Kate darauf aufmerksam, und sie runzelte sofort die Stirn und äußerte ihre Besorgnis über die Gräser in den Zelluloidtöpfen.
»Ich glaube, dem Gras ist es egal«, sagte Ben. »Gras ist nicht besonders empfänglich für Ästhetik.«
»Nein, es hat bestimmt Einfluss auf die Erde.«
»Der ist so minimal, dass es sicher keinen Unterschied macht«, sagte Ben mit der Selbstsicherheit eines Mannes mit naturwissenschaftlichem Hochschulabschluss.
»Auch die winzigen Unterschiede sind wichtig. Es könnte einen Schmetterlingseffekt geben.«
»O nein, nicht der Schmetterlingseffekt«, sagte Ben spöttisch.
Doch sie beharrte darauf, dass Pflanzen komplexe Systeme seien, genau wie das Wetter; es könne jederzeit zu einem Schmetterlingseffekt kommen. Er widersprach und behauptete, dass eine Pflanze nicht sonderlich komplex sei; ein Gras bestünde nicht aus Millionen von Zellen, sondern lediglich aus tausenden, und die meisten glichen sich exakt. Sie widersprach seinem »exakt« – sie könnten sich nicht exakt gleichen. Er sagte: »Tja, wenn du meinst.« Sie lachten. Dann griff sie nach seiner Hand, was ihn plötzlich erschaudern ließ. Er war gezähmt. Er war beeindruckt.
Sie sagte: »Ich habe dich nicht mit hochgenommen, um Sex zu haben. Ich hoffe, du hast das nicht missverstanden.«
»Oh, natürlich nicht«, log er, »ich habe nichts dergleichen erwartet.«
»Vielleicht könnten wir ja nächstes Mal Sex haben.«
»Okay.«
»Ich meine, ich will dich nicht abweisen.«
»Ja«, sagte er, ein wenig heiser, »weis mich nicht ab.«
»Werde ich nicht«, sagte sie. »Tu ich nicht.«
Sie schwiegen eine Minute lang. Er überlegte, was wohl die Parameter von »kein Sex« seien. Er dachte über den Schmetterlingseffekt nach, und wie er sich auf das Verliebtsein auswirkte, die kleinen Unterschiede zwischen einer Frau und einer anderen, die eine lebensverändernde Verkettung von Ereignissen zur Folge hatten. Er sah zu den Gräsern und beschloss, dass es besser sei, ihr nichts davon zu erzählen.
Dann sagte er und klang dabei zum ersten Mal nervös: »Erinnerst du dich an deine Träume?«
Das war das letzte, das geschah, bevor er sie küsste. Er strich über ihre Wange, ihre Haut puderweich, so wunderschön, dass es schon grotesk war. Die ganze Welt strömte in seinen Kopf, mit ihren violett gefärbten Gräsern und ihrem schwarzen Haar, und durch beide fuhr anmutig der Wind und brachte den Duft des Himmels. Und als sie sich nebeneinanderlegten, passten ihre Körper auf unheimliche Weise zusammen, sie griffen ineinander; dann jedoch begannen sie, sich zu bewegen, passten sich wieder einander an, schlossen sich an, und der Strom floss zwischen ihnen. Dann lag er stundenlang wach, während Kate ruhig, ganz natürlich in seinen Armen schlief. Sein ganzes Leben lang würde er sich daran erinnern: an diesen berauschenden Moment nicht nur der ersten Liebe, sondern auch der universellen Hoffnung, jenen Sommer, als Chen die Präsidentschaftsvorwahlen in einer Welle utopischer Begeisterung für sich entscheiden konnte, als die Treibhausgasemissionen erstmals drastisch zurückgegangen und die Jerusalemer Friedensverträge unterzeichnet worden waren, als die Vereinten Nationen ihre Millenniumsziele zur Bekämpfung der Armut noch übertroffen hatten, als es sich angefühlt hatte, als könnte sich noch alles zum Guten wenden. Er konnte all das wieder heraufbeschwören, indem er sich diese Luftmatratze ohne Bettlaken ins Gedächtnis rief, das vom Aussterben bedrohte Gras, das über ihren Köpfen aufragte und sich im Wind wiegte, die Sterne wie Staubzucker. Ohne Bettzeug strich der Wind direkt über seinen Körper, über seine bloßen Arme. Weit unter ihnen war der Verkehr zu hören, leise wie ein Gedanke. Hin und wieder wallte eine Sirene auf, wie eine zarte rote Linie, die über den Himmel rollte und wieder verebbte. Kate murmelte im Schlaf und trat mit den Füßen. Es war jedes Mal hinreißend, und er war verblüfft. Im Morgengrauen schlief er ein, mitten in seinen Überlegungen, wie er sie dazu bewegen könnte, bei ihm zu bleiben.
2
In dem Traum schlief Kate.
Sie schlief, aber nicht dort, wo sie eingeschlafen war. Der Ort unterschied sich von allen Orten, die sie je gesehen hatte, obwohl er ihr im Traum vertraut war. Sie kannte das Bett, das Haus, die große Stadt. Sie musste nicht überlegen, wo sie sich befanden. Doch es war nicht Kate, die all das kannte. Es war die Person, als die sie schlief.
Oft träumte sie im Traum – oder die Person, als die sie schlief träumte. In diesen Träumen kamen meistens Pferde vor, auf denen sie ritt, die buckelten und drohten, sie abzuwerfen, oder die unheimlich in den Himmel aufstiegen; manchmal spielte sie ein Saiteninstrument, dessen Saiten rissen und gegen ihre Finger peitschten. Einmal schien sie zu wissen, dass ein Mann in ihrem Traum-im-Traum ihr Vater war, doch sein Gesicht blieb verschwommen; natürlich hätte sie ohnehin wissen müssen, wie ihr Vater aussah. Da es aber nicht Kates Vater war, wusste sie es nicht. Sie hatte nie erfahren, wie er aussah; sie verfügte nur über das vage Wissen, dass er tot war.
Manchmal näherte sie sich dem Aufwachen als diese andere