Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer
(Abb. 2.4).
Abb. 2.4: Der Öffnungsprozess des U
Aber ich hatte noch Fragen. Wenn der Weg auf der linken Seite des »U« Varelas Kernprozess des Aufmerksamwerdens veranschaulicht, was erwartet uns dann auf der rechten Seite des »U«? Es schien mir so, als ob alle Aufmerksamkeit nur auf den »Öffnungsprozess«, auf die linke Seite des U, aber wenig oder gar keine Aufmerksamkeit auf das Drama des gemeinsamen Handelns gerichtet ist, das auf der rechten Seite beschrieben ist. Diese rechte Seite beschreibt eine ganz andere Dimension eines kollektiven kreativen Prozesses, die etwas mit der Absicht zu tun hat, das Neue oder die zukünftige Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Wie kommt das Neue in die Welt?
Das innere Terrain der Führung
Erkundung der rechten Seite des »U«
Der Prozess entlang der linken Seite des »U« bis zum tiefsten Punkt führt durch die Erkenntnisräume des Runterladens (Downloading), Hinschauens (Seeing), Hinspürens (Sensing) bis zum tiefsten Punkt des Anwesendwerdens (Presencing). Damit man zu diesen tiefer liegenden Erkenntnisräumen gelangt, müssen die Schwellen überquert werden, die Varela in seiner Arbeit identifiziert hat:
1) das Innehalten (suspension),
2) das Umwenden (redirection) und
3) das Loslassen (letting-go).
In meiner Arbeit wurde mir deutlich, dass der Weg aus dem U hinaus in das Handeln genauso verläuft wie der Weg in das U hinein, außer dass man die Schwellen in entgegengesetzter Richtung überschreitet (Abb. 2.5):
•Die Schwelle des Loslassens (auf dem Weg hinunter) wird zu einer Schwelle des Kommenlassens (auf dem Weg hinauf). Das Kommenlassen führt zu einem Moment, an dem die am tiefsten Punkt des U-Prozesses entstandene Intention und Vision sich jeweils verdichten können.
•Die Schwelle des Umwendens, d. h. die Wendung nach innen (auf dem Weg hinunter), wird zu einer Schwelle des Hervorbringens, d. h. der Wendung nach außen in der Erprobung konkreter Prototypen (auf dem Weg hinauf). Darüber wird später im Buch ausführlich gesprochen.
•Die Schwelle des Innehaltens verwandelt sich über das Innehalten bezüglich Gewohnheiten und Routinen (auf dem Weg nach unten) in die Schwelle des Verkörperns (auf dem Weg nach oben). Verkörpern ist die Schwelle, an der das Neue mittels Handlungen, Infrastrukturen und Praxis seine Form bekommt.
In all diesen Fällen wird also dieselbe Schwelle erneut überquert, nur von der anderen Seite her.
Abb. 2.5: Das komplette U: sechs Umschlagpunkte
In meiner Arbeit habe ich oft beobachtet, wie Gruppen sich über diese Schwellen bewegen (Abb. 2.5). Kommt es zu einem derart tiefen Innovations- und Veränderungsprozess, zeigt sich, dass die Gruppe irgendeine Variante der im Folgenden beschriebenen subtilen Veränderungen des sozialen Feldes durchläuft:
•Runterladen: Am Anfang führt ein Funke des Gewahrwerdens dazu, dass wir uns über eine Fortsetzung des Runterladens – über die Reinszenierung von Mustern der Vergangenheit – hinausbewegen. Bei einer Wahrnehmung aus dem Blickwinkel des Runterladens sehen wir die Welt mit den Augen (und den Beschränkungen) des gewohnheitsmäßigen Denkens, sodass uns nichts Neues in den Sinn kommen kann.
•Hinschauen: Wird dieser Weg weiter verfolgt, vertieft sich der Moment der erwachenden Aufmerksamkeit; wir halten in unserem gewohnheitsmäßigen Urteil inne und betrachten die Realität mit frischem Blick. Bei einer Wahrnehmung aus diesem Blickwinkel sehen wir die Welt mit offenem Denken, aber auch aus einer Warte, von der aus das Beobachtete als von uns getrennt erscheint.
•Hinspüren: Setzt sich der Prozess noch weiter fort, vertieft sich der Moment der Aufmerksamkeit; wir wenden unsere Wahrnehmung um, hin zu einer Verbindung mit dem Feld und zu einem Hinspüren vom Ganzen her. Bei einer Wahrnehmung aus diesem Blickwinkel verschwimmt die Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem und eröffnet einen Erkenntnisraum, der dem System erlaubt, sich selber wahrzunehmen.
•Anwesendwerden: Wird dieser Weg noch weiter verfolgt, vertieft sich der Moment des Gewahrwerdens immer weiter; wir lassen das Alte los und verbinden uns mit dem Quellort des Seienden und der im Entstehen begriffenen Zukunft. Bei einer Wahrnehmung aus diesem Blickwinkel löst sich die Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem vollständig auf, verwandelt sich in einen Ort des Haltens, der den Teilnehmenden und dem System ermöglicht, sich selbst sowohl in Bezug auf die gegenwärtige Realität als auch in Bezug auf die im Entstehen begriffene Zukunft wahrzunehmen.
•Verdichten der Vision und Intention: Bei weiterer Fortsetzung manifestiert sich das Gewahrwerden immer weiter, wenn wir die im Entstehen begriffene Zukunft vergegenwärtigen und kommen lassen. Bei einer Wahrnehmung aus diesem Blickwinkel wird die Beziehung zwischen Beobachtetem und Beobachter oder zwischen System und Selbst allmählich durch einen profunden Umkehrungsprozess transformiert. Dieses Umstülpen beginnt damit, dass sich Vision und Intention verdichten (im Gegensatz zum Verdichtetwerden durch den Beobachter).
•Erproben des Neuen in Prototypen von lebendigen Mikrokosmen: Wird der Prozess weiter fortgesetzt, manifestiert sich das Gewahrwerden immer weiter; wir entwickeln Prototypen, in denen die Zukunft durch praktisches Tun gemeinsam erkundet und entwickelt wird. Bei einer Wahrnehmung aus diesem Blickwinkel setzt sich die Umkehrung der Beziehung zwischen Beobachtetem und Beobachter (System und Selbst) weiter fort, während der Prozess des Erprobens in Prototypen durch den Kontext oder den »Dialog mit dem Universum« angeleitet wird (im Gegensatz zur Anleitung durch das beobachtende Selbst).
•Das Neue praktisch anwenden und institutionell verkörpern: Wird der Prozess noch weiter fortgesetzt, manifestiert sich das Gewahrwerden immer weiter, wenn wir das Neue durch beispielsweise Infrastrukturen und Alltagspraktiken in eine Form bringen. Bei einer Wahrnehmung aus diesem Blickwinkel kommt es zur vollständigen Umkehrung der Beziehung zwischen Beobachtetem und Beobachter (System und Selbst) durch das Einbetten und praktische Anwenden des Neuen vom größeren Ökosystem aus (anstatt vom beobachtenden Selbst aus).
Diese sieben kognitiven Räume lassen sich mit sieben unterschiedlichen Räumen eines Hauses vergleichen. Jeder Raum repräsentiert einen der sieben Räume der Aufmerksamkeit (Abb. 2.5). Die meisten Organisationen und Institutionen benutzen heute nur wenige dieser Räume – häufig die Räume der oberen Hälfte von Abb. 2.5 –, während das in den anderen Räumen liegende Potenzial nur selten genutzt und nicht realisiert wird. Teil II dieses Buches geht im Detail auf jeden dieser Räume ein und legt dar, wie wir uns diese Räume erfolgreich erschließen, unseren Aufenthalt darin genießen und durch diese Erfahrung wachsen können.
Der Rest des Weges, der uns zur Entdeckung der Theorie U führte, lässt sich mit den folgenden fünf Thesen zusammenfassen:
1.Wir brauchen eine neue soziale Technik, die auf der Feinabstimmung von drei Instrumenten basiert.