Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer
sehr«, sagte Senge. »Und ich erkannte, dass es hier eine direkte Parallele zu meiner eigenen Erfahrung gibt. Robèrt hatte fast sein ganzes professionelles Leben lang über Krebs geforscht und mit Hunderten von Familien, die sich mit dem Krebs eines Elternteils, eines Kindes oder eines Ehepartners auseinandersetzen mussten, gesprochen. Was er dabei festgestellt hat, war, dass die Betroffenen unglaubliche Kraftreserven hatten. Robèrt beschrieb das so: ›Du erzählst den Leuten furchtbar schwierige Dinge, beispielsweise dass dein dreijähriges Kind Krebs hat, und es ist unglaublich zu sehen, welche Kräfte die Menschen haben, welche Fähigkeiten, sich der Wahrheit zu stellen und als Familie zusammenzuhalten.‹«
Senge sprach dann von der Kraft, die entsteht, wenn man der Realität ins Auge sieht, und wie er diese Kraft in seinem Kurs »Leadership and Mastery« erlebt, wenn er mit Teilnehmenden an ihrem individuellen Entwicklungspotenzial arbeitet. Anschließend beschrieb er seine Kernfrage:
»Wie kann man Menschen helfen, dass sie gemeinsam ihre realen Reserven erschließen können, die für tief greifende Veränderungsprozesse vorhanden sind, für Veränderungsprozesse, die scheinbar unmöglich sind? Viele Leute halten die Menschen im Grunde für egozentrisch und materialistisch, und deswegen ist die Gesellschaft so, wie sie ist. So seien die Dinge nun mal. Aber das, wie die Dinge nun mal sind, ist natürlich nur ein mentales Modell. Und je nach Situation und Kontext konfrontieren Menschen sich damit und erfahren echte Großzügigkeit. Wie kann diese Energie kollektiv freigesetzt werden?«
Während ich Peter zuhörte, bemerkte ich, dass die Zeit sich verlangsamte. Auch mein Zuhören veränderte sich, wurde genauer, tiefer.
»Vor einem Jahr hatte ich ein interessantes Gespräch mit Meister Nan, einem chinesischen Zenmeister, der in Hongkong lebt«, sagte Peter. »In China wird er als Gelehrter geschätzt, der Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus integriert. Ich fragte ihn: ›Glauben Sie, dass das industrielle Zeitalter solche Umweltprobleme schaffen wird, dass wir uns zerstören werden?‹ Meister Nan machte eine Pause und schüttelte seinen Kopf. Er sagte: ›Es gibt nur ein Problem auf der Welt. Und das ist die Reintegration von Materie und Geist.‹ Das ist genau, was er zu mir sagte, die Reintegration von Materie und Geist.«
Diese Worte riefen eine tiefe Frage in mir wach: Was bedeutet die Trennung zwischen Materie und Geist in sozialen Systemen, für unsere soziale Welt als Ganzes, für den sozialen Körper, der wir kollektiv sind? Diese Frage verband sich mit Erinnerungen an die Arbeit meiner Eltern. Das sichtbare Ergebnis der Landwirtschaft, die Ernte, hängt von der unsichtbaren Qualität des Feldes ab. Ich fragte mich: Was wäre, wenn die Qualität der sichtbaren sozialen Interaktionen eine Funktion dieses unsichtbaren Feldes wäre, das im blinden Fleck unserer Wahrnehmung liegt? Die Qualität dieses unsichtbaren Feldes – unser blinder Fleck – bestimmt die Effektivität unserer sichtbaren sozialen Handlungen. Wenn Meister Nan die Reintegration von Materie und Geist als Hauptproblem benennt, bedeutet das, dass wir, wenn wir die Qualität unserer Handlungen als Gruppe oder Team erhöhen wollen, unsere Aufmerksamkeit auf die unsichtbare Dimension lenken müssen: auf den Ort, von dem aus wir handeln.
Die Trennung zwischen Materie und Geist
Ich fragte Senge, wie er die Trennung von Geist und Materie und Materie in Bezug auf unsere Arbeit mit Gruppen und Organisationen sieht. »Im Grunde genommen gestalten wir Organisationen wie Materie. Damit meine ich, dass Organisationen eine scheinbar unabhängige Existenz außerhalb von uns annehmen und wir dann Gefangene dieser Organisationen werden.«
Organisationen sind von Menschen geschaffen, aber wenn sie zum »System« werden, das Probleme verursacht, werden Organisationen zu einer rein äußerlichen Angelegenheit. »Der Gedanke schafft Organisationen, und dann halten Organisationen die Menschen als Gefangene«, oder, wie der Quantenphysiker David Bohm bemerkte: »Der Gedanke schafft die Welt und sagt dann: ›Ich war’s nicht!‹«
»Für mich«, so Senge weiter, »ist dies der Kern systemischen Denkens. Anstatt die Organisation als etwas zu sehen, das ›mir etwas antut‹, beginnen die Beteiligten, die Frage zu stellen, wie ihre eigenen Denkmuster und ihr Handeln das Ganze hervorbringen. Und dann vervollständigen sie diese Rückkopplungsschleife. Das sind für mich die intensivsten Momente in Veränderungsprozessen, wenn Teilnehmende plötzlich so etwas sagen wie: ›Oh, Mann! Seht nur, was wir uns selbst antun!‹ Oder: ›Wenn ich sehe, wie wir handeln, verwundert es mich nicht, dass wir nicht weiterkommen.‹ Und was für mich in diesen Momenten wichtig ist, ist dieses wir. Nicht ›du‹, nicht ›sie‹, sondern ›wir‹ … Eine gute Systemphilosophie schließt die Rückkopplungsschleife zwischen den Beteiligten, ihrer Realitätserfahrung und ihrer Teilnahme an diesem Zyklus von Wahrnehmung und Handeln.«
Zum Zeitpunkt dieses Interviews mit Peter hatte ich viel über organisationales Lernen und Systemdenken gelesen, aber es war mir noch nie so klar vorgekommen: Das Wesentliche des Systemdenkens besteht darin, Menschen dabei zu helfen, die Rückkopplungsschleife zwischen dem Handeln des Systems und dessen unsichtbaren Ausgangspunkt von Bewusstsein und Gedanke zu schließen. Senge meinte dazu leise: »Ja, ich glaube nicht, dass ich vorher so darüber gedacht habe.«
Nach dem Gespräch war ich ein anderer Mensch. Irgendetwas in mir hatte sich verschoben und neu geordnet. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich irgendwie einem wesentlichen Aspekt meiner eigenen Frage begegnet. Ich konnte die Frage nicht formulieren, aber ich konnte sie fühlen. Es war eine deutliche körperliche Empfindung, die vielleicht eine Woche anhielt (vgl. Gendlin a. Wiltschko 2004). Als dieses Gefühl nachließ, begann ich, darüber nachzudenken, was die tieferen Aspekte der sozialen Realität, die tieferen Bedingungen sind, aus denen heraus soziale Handlungen entstehen. Mir wurde deutlich, dass diese Ausgangspunkte oder tieferen Feldbedingungen, aus denen heraus wir handeln, genau das sind, was wir oft nicht sehen. Vielleicht ist dies der wichtigste blinde Fleck unserer zeitgenössischen Sozial- und Systemtheorie.
Zwei Lernquellen und zwei Lernformen
Als ich am MIT ankam, war ich ein konventioneller, weißer, männlicher, europäischer Akademiker: stark im intellektuellen Reflektieren, eher weniger stark, was die praktische Erfahrung und Umsetzung betrifft. Was mich am MIT gereizt hatte, war die Aktionsforschung, die dort u. a. von Edgar Schein, dem Mitbegründer von Prozessberatung, vertreten wurde. Gemäß dem Gründer der Aktionsforschung, Kurt Lewin (1890–1947), der in Deutschland geboren und zum Zeitpunkt der »Machtergreifung« Hitlers in die Vereinigten Staaten emigriert war, ist der Ausgangspunkt für Aktionsforschung, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen soziale Systeme nur verstehen können, wenn sie sich aktiv an Veränderungsprozessen beteiligen. Aber wann weiß ein Aktionsforscher, dass er etwas weiß? Als ich Ed Schein diese Frage stellte, antwortete er: »… wenn mein Wissen für die Praktiker in den Organisationen hilfreich ist – in diesem Moment weiß ich, dass ich weiß« (vgl. Schein 1987c, 2002).
Diese Idee bestimmt auch meine eigene Forschung. Im Laufe der letzten 20 Jahre habe ich gemeinsam mit meinen Kollegen in zahlreichen Aktionsforschungsprojekten daran gearbeitet, Führungsteams zu helfen, einen Veränderungsprozess zu durchlaufen. Diese system-, sektoren- und kulturübergreifenden Aktionsforschungsprojekte haben mich sowohl in Unternehmen als auch zu Nichtregierungsorganisationen geführt. Ich habe viele direkte Erkenntnisse über die Welt der Unternehmen gesammelt, aber mein Weg hat mich über etablierte Institutionen hinaus auch in die Welt von Graswurzelaktivisten, Initiatoren von Basisbewegungen und unternehmerischen und revolutionären Erneuerern geführt.29 Was ich in diesen verschiedenen Welten gelernt habe, lässt sich im Kern mit dem folgenden Satz zusammenfassen: Es gibt zwei Ausgangspunkte für Lernprozesse: die Vergangenheit und die im Entstehen begriffene Zukunft.
Lernen von den Erfahrungen der Vergangenheit ist ein bekannter Prozess, der mit der Abfolge Handlung–Beobachtung–Reflexion–Plan–Handlung beschrieben wird (vgl. Kolb 1984). Wie aber lässt sich von einer im Entstehen begriffenen Zukunft her lernen? Das ist das Thema dieses Buches.30