Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom. Etta Wilken
seine Erstbeschreibung derjenigen Menschen mit einer geistigen Retardierung vornahm, welche wir heute als Menschen mit Down-Syndrom bezeichnen, stellte er fest, dass ihr Anteil an dieser Gruppe mehr als 10 Prozent betrug (Down 1866, 261). Untersuchungen vom Ende der sechziger Jahre bis Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die sich auf Kinder im Schulalter bezogen, kamen relativ übereinstimmend auf etwa den doppelten prozentualen Anteil:
Diese Zahlen zeigen, dass sich im Vergleich zu den früheren Erhebungen der Anteil der Kinder mit Down-Syndrom am Gesamtanteil der geistig behinderten Schüler offensichtlich fast halbiert hat – selbst wenn berücksichtigt wird, dass bei den Erhebungen aus den Jahren 2000 und 2013 die integriert beschulten Kinder mit Down-Syndrom nicht erfasst wurden. Auch aktuelle Berichte aus Frühförderstellen und Schulen bestätigen diese deutliche Abnahme, selbst wenn es immer wieder einmal zu einer zeitweise regionalen Häufung von Geburten kommt, so dass nach Jahren, in denen kein Kind mit Down-Syndrom gemeldet wurde, plötzlich für mehrere Kinder Frühförderung beantragt wird.
Auffällig ist das unausgeglichene Verhältnis von Jungen und Mädchen beim Down-Syndrom. Schon in verschiedenen älteren Publikationen wurde darauf hingewiesen, dass es mehr männliche als weibliche Menschen mit Down-Syndrom gibt. Dittmann ermittelte in seiner Stichprobe 47 Prozent Mädchen und 53 Prozent Jungen (1975, 148). Bei der Untersuchung von Wilken (1974) betrug das Verhältnis 57,1 Prozent Jungen zu 42,9 Prozent Mädchen und 2000 wurde eine Relation von 54 Prozent Jungen zu 46 Prozent Mädchen festgestellt. In der Erhebung von Ratz waren von den 188 Schülern mit Down-Syndrom nur 39,8 % Mädchen, aber 60,2 % Jungen.
Innerhalb der Gruppe von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen haben etwa 10 % das Down-Syndrom – mit deutlich abnehmender Tendenz.
Der Anteil der männlichen Personen ist deutlich erhöht.
Während in der Gesamtgruppe aller Schüler mit intellektueller Beeinträchtigung die noch deutlicheren prozentualen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen durch zumeist bekannte geschlechtstypisch recht unterschiedliche genetische und schädigungsspezifische Faktoren verursacht werden, lässt sich die zufällig erfolgende chromosomale Fehlverteilung beim Down-Syndrom für diese prozentualen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Personen nicht schlüssig erklären.
3 Teilhabe und Förderung in der Familie
Die Familie bietet dem Kind den natürlichen sozialen Raum für Entwicklung und Geborgenheit und vermittelt sowohl Fähigkeiten, Interessen und Motivationen als auch soziokulturelle und ethnische Einstellungen und Werte. Die meisten Kinder wachsen trotz einer zunehmenden Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen in Familien mit Mutter und Vater auf. Unabhängig von den individuell verschiedenen Bedingungen hat jede Familie elementare Bedeutung für die Sozialisation und Enkulturalisation des Kindes, für materielle und emotionale Sicherung seiner Bedürfnisse, für Partizipation in einem familien- und freundschaftlichen Netzwerk.
»Eingebettet in übergreifende gesellschaftliche Werteordnungen, Normen- und Regelsysteme und gesetzliche Rahmungen stellt die Familie die erste und zentrale gesellschaftliche Sozialisationsinstanz dar« (v. Kardorff, Ohlbrecht 2014, 15). Zudem bestimmt sie auch ganz wesentlich die Chancen des Einzelnen, die »vom emotionalen Klima in der Familie, dem milieuabhängig vermittelten sozialen und kulturellen Kapital, der finanziellen Ausstattung und der gesellschaftlich bestimmenden Statusposition der Eltern« abhängig sind (ebd). Auch milieutypische Einstellungen zu bestimmten Kompetenzen und Aktivitäten wie Lesen, Klavierspiel oder Fußball, eine allgemeine Anstrengungsbereitschaft und wertschätzende Interessenförderung sowie genderspezifische Verhaltensweisen und spezifische sprachliche Kommunikations- und Interaktionsstile werden familienabhängig geprägt. Förderung und professionelle Unterstützungsangebote müssen sich deshalb sowohl an der Lebenswelt des Kindes und seinen speziellen Bedürfnissen als auch an der individuellen Lebenslage der Eltern und ihren materiellen sowie sozialen Bedingungen und Ressourcen orientieren.
Für die Sozialisation des Kindes sind sowohl die individuellen Bedingungen als auch die familiären Ressourcen bedeutsam.
Es ist deshalb wichtig, sich mit den aktuellen Entwicklungen der unterschiedlichen Lebensbedingungen von Familien und den teilweise konträren Erziehungshaltungen zwischen Verwöhnung und Vernachlässigung auseinanderzusetzen und daraus Konsequenzen zu ziehen für die Förderung der Kinder in familiären, aber auch in institutionellen Bereichen. Dazu gehört zu reflektieren, wie und was Kinder in ihrem normalen Lebensalltag lernen, wie sie durch Übernahme von Pflichten in der Familie und durch Spielen allein und mit anderen wesentliche natürliche Anregungen und Impulse erfahren.
Gerade dem so genannten inzidentellen Lernen, das sich nebenbei und eher zufällig in Alltagshandlungen und familientypischer Lebensgestaltung ergibt, kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu. »Im Verlauf der ›beiläufigen‹ familialen Sozialisationsprozesse und gezielter Erziehungsbemühungen werden dem Einzelnen die für das (Über-)Leben in der jeweiligen Gesellschaft wesentliche Grundlagen vermittelt« (v. Kardorff, Ohlbrecht 2014, 15). Insofern ist es problematisch, wenn »im Bestreben ihren Kindern das Beste zu ermöglichen … die große Mehrheit der Eltern ihre Kinder vor allem von Alltagspflichten« entbindet (Konrad-Adenauer-Stiftung 2014, 4) und durch diese »Entpflichtung« das Lernen von Verantwortung und Leistungsbereitschaft ihrer Kinder gerade in verstehbaren Alltagszusammenhängen einschränkt. Auch bedeutet die Übernahme von Aufgaben und das Helfen-müssen nicht nur eine lästige Pflicht, sondern es eröffnet dem Kind in konkreten Situationen die wichtige Erfahrung von Helfen-können. Dadurch erlebt es unmittelbar die Bedeutung eigener Kompetenzen und das fördert sein Selbstbewusstsein und die Entwicklung von Selbstwertgefühlen.
Auch für das Aufwachsen von Kindern mit Behinderung ist es wichtig zu reflektieren, wie der gemeinsame Familienalltag zu gestalten ist und welche Möglichkeiten der normalen Teilhabe an Tagesabläufen und an Übernahme von Alltagpflichten und Einbindung in Routinen erfolgen kann. Damit kann ohne Therapeutisierung des Alltags natürliches inzidentellen Lernen gelingen. Gerade bei Kindern mit Down-Syndrom sind nicht nur die durch die Trisomie verursachten Schwächen zu betonen und zu behandeln, sondern auch die individuellen Stärken und famliengebundenen Möglichkeiten und Kontextfaktoren sind zu berücksichtigen. »Das durch die genetischen ›Baupläne‹ vorhandene individuelle