Ada (Band 2): Die vergessenen Orte. Miriam Rademacher

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte - Miriam Rademacher


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ausnahmslos archäologische Werke. Bücher, die sich mit Hieroglyphen und Höhlenmalerei auseinandersetzten. Richard hatte nämlich beschlossen, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Er würde am entferntesten Ende der Weltgeschichte beginnen, um festzustellen, ob diese seltsamen Zerberusse des Professor Ingress irgendwann schon einmal gesehen worden waren. Martin Holt, so hatten sie es vereinbart, würde die Geschichte in entgegengesetzter Richtung durchpflügen. Wie zwei Männer, die einen Tunnel durch einen Berg gruben, hofften sie, irgendwann, in irgendeiner Epoche, einander die Hand schütteln zu können. Perfekt wäre es, wenn sie dann auch irgendeine Erkenntnis vorzuweisen hätten.

      »Es sind gar keine literarisch bedeutenden Werke in deiner Auswahl enthalten«, bemängelte Charlotte und krauste die Nase. Richard bemerkte, dass sie drei Sommersprossen auf dem rechten Nasenflügel hatte. »Könnte das, was wir alle suchen, nicht auch in einem Gedichtband oder einem Brief auftauchen?«

      »Das könnte es sicherlich«, räumte Richard ein. »Aber irgendwo muss ich ja anfangen. Und mir kam die Idee, das Geschöpf unter alten Abbildungen zu suchen. Vielleicht werde ich ja fündig.«

      »Setz dich neben mich«, bat Charlotte und klopfte auf die Sitzfläche des freien Stuhls neben sich. »Erzähl mir, was du auf den Abbildungen in den Bänden siehst. Lies mir vor, was du liest. Ich bin schon ganz gespannt auf deine Welt.«

      Glücklich, nahezu aufgekratzt, wechselte er den Platz, zog den Bücherstapel nah heran, nahm das Oberste an sich und schlug es auf. Charlotte umfasste seinen Arm und lehnte sich an ihn. Sie schien auf die Buchseiten hinabzublicken.

      »Kannst du wirklich gar nichts sehen?«, fragte Richard neugierig.

      »Doch«, räumte sie ein. »Schatten und manchmal ein paar Lichtblitze. Aber das ist wenig hilfreich, wenn man ein Buch lesen möchte.«

      »Und …« Richard zögerte etwas mit seiner nächsten Frage, weil er fürchtete missverstanden zu werden. »… was genau machst du, ich meine, was ist deine Aufgabe bei …«

      »Unserem Projekt?«, half Charlotte ihm ganz unbefangen aus seiner Verlegenheit.

      Er nickte.

      »Hast du gerade genickt?«

      Er nickte wieder.

      Sie lachte. »Also, das musst du dir abgewöhnen, wenn du mit mir sprichst, ja? Nicht dass ich dein Nicken nicht bemerkt hätte, aber es ist schon einfacher, wenn du mit mir redest.«

      Richard lachte ebenfalls und genoss den wunderbaren Moment. Ein Mädchen, ein wunderschönes und kluges Mädchen war ihm so nah, dass es sein Nicken fühlen konnte. Er hatte das sichere Gefühl, dass sein Leben gerade unter einem guten Stern stand, der ihn zu Ingress und zu Charlotte geführt hatte. Mochte Martin in seiner Selbstherrlichkeit auch manchmal etwas anstrengend sein, er hatte ihm auf den richtigen Weg verholfen.

      »Ich gehöre zum Team der Verhaltensforscher«, beantwortete Charlotte ihm seine Frage, die er schon fast vergessen hatte. »Du denkst jetzt sicher, dass man dafür doch sehen können müsste, aber das Verhalten von Menschen und Tieren und auch diesen Kreaturen lässt sich nicht nur mit dem Auge erforschen. Viele meiner Kollegen verlassen sich sogar zu sehr auf das, was sie sehen.« Sie grinste spitzbübisch. »Ich nutze alle meine Sinne, ich rieche, taste, höre, schmecke. Ich bemerke vieles, was anderen entgeht. Deswegen bin ich nahezu unentbehrlich, das darfst du mir glauben.«

      Richard glaubte ihr. Doch als ihm die volle Bedeutung ihrer Worte bewusst wurde, traf es ihn wie ein Keulenschlag. »Aber das heißt ja, dass du für deine Forschungen hinter das Glas gehen musst. Zu den Kreaturen auf die andere Seite.«

      »Hast du Angst um mich, Richard?« Sie klang amüsiert. »Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass ich bisher nur betäubte Exemplare dieser Spezies genauer untersucht habe?«

      »Betäubt?« Richard stellte sich vor, wie jemand mit einem Holzhammer hinter das Glas zu den Wesen schlich, eines von ihnen niederschlug und es aus dem Gang bis zu einem Untersuchungstisch schleppte.

      »Sie stehlen unser Essen«, klärte Charlotte ihn auf. »Man muss es nur eine Weile unbeaufsichtigt herumstehen lassen und dann ist es irgendwann weg. Wir haben noch nicht herausbekommen, wie sie es anstellen, aber wir sind ja auch noch am Anfang. Wir selbst haben einige Zugänge, Türen, um genau zu sein, zu ihren Tunneln einbauen lassen. Eigentlich sollten diese immer verschlossen sein, damit die Wesen nicht zu uns auf die andere Seite kommen, aber das klappt wohl nicht besonders gut.« Sie seufzte. »Vielleicht haben die Schrate aber auch eine Möglichkeit gefunden, die verschlossenen Türen zu öffnen, irgendwie kommen sie jedenfalls an unser Essen. Erwischen wir einen außerhalb ihrer Gänge, versuchen wir, ihn mit einem Schuss aus einem Betäubungsgewehr schlafen zu schicken. Die Kreaturen reagieren sehr schnell auf einen Treffer und schlafen fast sofort ein.« Charlottes Stimme klang plötzlich sehr sachlich und gar nicht mehr amüsiert. »Wir haben Überwachungskameras angefordert, um herauszufinden, wie sie von ihren Gängen in unsere Räume gelangen. Wenn wir diese erst genehmigt bekommen und installiert haben, wird alles leichter. Dass man für Arbeitsmaterial immer eine Genehmigung braucht, ist lästig, aber nicht zu ändern. Schließlich gibt die Regierung eine Menge Geld für das Projekt aus.«

      Zum ersten Mal fragte sich Richard, welches Interesse genau hinter den Bemühungen der Geldgeber steckte, dieses Projekt voranzutreiben. Und dann auch noch in aller Stille und klammheimlich. Was versprach man sich andernorts von seiner Arbeit? Um reine Neugier konnte es dabei nicht gehen, oder doch?

      »Jedenfalls haben wir dank des Betäubungsgewehrs schon das ein oder andere Geschöpf genauer untersucht. Und bevor es aufwacht, bringen wir es durch eine Stahltür zurück in einen der Tunnel. Zum Dank lege ich dem Wesen immer etwas Essen dazu. Sie sind Allesfresser, wie mir scheint. Egal ob Fleisch oder Schokolade, sie nehmen alles dankbar an.« Jetzt klang sie wieder fröhlich.

      Richard aber blieb nachdenklich. Die Schrate verschafften sich also Zutritt in die Labore, sei es durch Türen, die jemand vergessen hatte, abzuschließen, oder auf einem anderen geheimnisvollen Weg. Das war ein beunruhigender Gedanke. Er hatte irgendwie geglaubt, dass das Plexiglas eine wirksame Barriere zwischen ihm und den Wesen darstellte. Dabei erleichterte es tatsächlich nur die Beobachtung, ohne sie zu schützen.

      »Was ist los mit dir, Richard?« Charlotte neben ihm richtete sich kerzengerade auf. »Ich kann spüren, dass du gerade wachsam geworden bist. Ist etwas nicht in Ordnung?«

      Richard sagte es ihr. »Mir gefällt der Gedanke nicht, dass es diesen Wesen möglich ist, einfach so neben uns aufzutauchen. Dass sie kommen und gehen können, wie es ihnen gefällt.«

      Charlotte lachte erleichtert auf. »Aber das wollen sie doch gar nicht. Wenn sie das wollten, dann hätten sie es längst getan. Nein, sie bleiben am liebsten in ihren Wänden und kommen nur daraus hervor, um sich Essen oder nützliche Gegenstände anzueignen.«

      Nahrung und nützliche Dinge wie etwa einen Korkenzieher? War das wirklich alles, was diese Zerberusse wollten? Und was wollte die Regierung im Gegenzug von ihnen?

      Richard strich nachdenklich über die aufgeschlagene Seite des Buches auf seinem Schoß. Wusste er genug über seine neue Arbeit, um sich ihr ganz hinzugeben? War das Misstrauen, das er Ingress und dem ganzen Projekt noch immer entgegenbrachte, unbegründet?

      »Lies vor, Richard. Fang einfach irgendwo an.« Charlotte kuschelte sich an ihn, ließ die Slipper von den Füßen gleiten und zog die Beine an. Niemals hatte ein Stuhl in einer Bibliothek gemütlicher ausgesehen. Richard vergaß, worüber er gerade noch nachgedacht hatte, und genoss den Moment.

      Er erzählte Charlotte von den Funden ägyptischer Ausgrabungsstätten, beschrieb ihr Bildnisse, Symbole und Hieroglyphen und bemerkte sehr schnell, dass er sich bei dieser Methode viel genauer und intensiver mit den Abbildungen auseinandersetzte, als er es sonst getan hätte.

      Charlotte war eine gute Zuhörerin. Ganz still saß sie an seinen Arm gelehnt da und unterbrach ihn nie. Richard konnte ihre Wärme, ihren Atem auf der Haut seines Unterarms spüren. Und er wusste, dass er im Begriff war, sich in diese zarte Frau, die so viel sah, ohne sehen zu können, gerade verliebte.

      »Entschuldigung«, hörte


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