Ada (Band 2): Die vergessenen Orte. Miriam Rademacher

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte - Miriam Rademacher


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      »Ich lasse Derek hinter mir, aber ganz sicher nicht Sebastian. Ich will, dass er überlebt hat«, erwiderte Valerie trotzig.

      Oktober 1965

      RICHARD

      »Das ist das seltsamste Studierzimmer, in dem ich je gesessen habe«, gab Richard zu.

      »Das glaube ich Ihnen gern. Ich versichere Ihnen, dass dies alles hier einem bestimmten Zweck dient, den Sie noch begreifen werden, Mister Blunt«, hörte er Ingress sagen.

      Das konnte Richard nur hoffen. Er saß jetzt seit zwei Minuten in einem sehr bequemen Sessel und hatte vor sich einen runden Tisch stehen. Das war alles, was er über diesen Raum wusste, denn in ihm herrschte eine undurchdringliche Dunkelheit.

      Wenn er seinen Ohren trauen durfte, so saß Professor Ingress ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches, gar nicht weit entfernt. Doch sehen konnte er den seltsamen Mann nicht.

      »Herr Professor, darf ich einige Fragen stellen?«, bemerkte Richard in die Dunkelheit hinein.

      »Ich hoffe, dass Sie das tun werden«, war die Antwort. »Ich wäre enttäuscht, wenn Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht eine ganze Menge unter den Nägeln brennen würde. Nach den Fragen suche ich meine Mitarbeiter aus.«

      »Was genau erforschen Sie hier im Zugang Zwei?«

      »Das zu erklären, wäre mühsam und wenig glaubwürdig«, erwiderte der Professor. »Aber mit etwas Glück kann ich Ihnen unser Forschungsobjekt vorführen. Das ist sehr viel eindrucksvoller und überzeugender, als es Worte zumeist sind. Die Dunkelheit ist dabei von Vorteil. Dann können wir es besser kommen sehen.«

      In diesem Moment fiel ein Streifen Licht auf das Gesicht des Professors und spiegelte sich auf der leeren Tischplatte zwischen ihnen. Die Tür hatte sich geöffnet und eine schlanke Gestalt, eine junge Frau mit Bubikopf, die ein Tablett mit Teetassen trug, schlüpfte herein. Einen Augenblick später fiel die Tür wieder ins Schloss und es wurde erneut dunkel um Richard.

      »Ah, da ist ja Miss Heyworth mit dem Tee. Ich hoffe, Sie haben Zeit, sich einen Moment zu uns zu setzen, meine Liebe. Mister Blunt hier hat eine Menge Fragen.«

      »Aber sicher, Herr Professor«, antwortete eine jugendliche Stimme heiter und Richard vernahm, wie das Tablett auf der Tischplatte abgestellt wurde.

      Kurz darauf klapperte etwas direkt vor ihm.

      »Ihre Tasse steht vor Ihnen, Mister Blunt«, fuhr die Mädchenstimme fröhlich fort. »Die Milch befindet sich auf elf Uhr, falls Sie Zitrone bevorzugen, suchen Sie auf zwei Uhr. Würfelzucker liegt neben dem Löffel.«

      Im ersten Moment glaubte Richard an einen albernen Scherz, doch als er den Professor schlürfen hörte und fühlte, dass die junge Frau dicht neben ihm Platz genommen hatte, begriff er, dass man wirklich von ihm erwartete, seinen Tee in völliger Dunkelheit zu trinken.

      Und als ob der Mann in der Dunkelheit seine Gedanken erraten hätte, sagte er: »Charlotte ist blind. Ihr ist egal, wie dunkel oder hell ihre Umgebung ist.«

      Richard ging davon aus, dass Charlotte der Vorname dieser Miss Heyworth war, und fragte sich, was die Tatsache, dass es ihr egal sein konnte, ob es hell oder dunkel war, damit zu tun hatte, dass er sich vermutlich gleich bekleckern würde.

      Da bemerkte er einen gelblichen Lichtschimmer, der sich nach und nach verstärkte. Er schien aus einem sehr großen Spiegel an der Wand zu ihnen heraus in den Raum zu leuchten. Und es dauerte eine Weile, bis Richard begriff, dass es sich keineswegs um einen Spiegel handelte, sondern ein weiteres Mal um eine Plexiglasscheibe, die eine der Wände in diesem Studierzimmer komplett einnahm. Dahinter hatte man gegraben oder gehackt und war interessanterweise nicht in einem der Nachbarzimmer oder im Freien gelandet, sondern in braunem Erdreich, durch das ein sehr großer Tunnel führte. Das gelbliche Licht schien in diesem Tunnel und wurde immer heller.

      »Erforschen Sie etwa gewaltige Wühlmäuse?«, fragte Richard und bemerkte, dass er jetzt sowohl das bärtige Gesicht des Professors als auch das der sehr hübschen und amüsiert lächelnden Charlotte Heyworth erkennen konnte.

      »Wenn Sie sie als Wühlmäuse bezeichnen möchten, nur zu. Allerdings sind wir uns noch nicht ganz sicher, wie wir sie nennen wollen oder ob sie schon einmal benannt worden sind.«

      »Wer ›sie‹?«, bohrte Richard nach, doch da wurde seine Aufmerksamkeit erneut auf die Plexiglaswand gelenkt oder vielmehr auf die beiden Wesen, die jetzt den dahinterliegenden Tunnel betreten hatten.

      »Ach du Scheiße!« Kein anderes Wort hätte es nach Richards Meinung besser getroffen.

      »Willkommen beim Forschungsprojekt Zerberus, Mister Blunt. Ist dies hier für Sie interessant genug, um sich uns anzuschließen?« Professor Ingress klang spöttisch.

      Das blinde Mädchen neben ihm kicherte, doch Richard war unfähig, eine geistreiche Bemerkung zu machen, war nicht in der Lage, überhaupt etwas zu erwidern. Mit großen Augen und offenem Mund starrte er auf die echsenartigen Wesen, mannshoch und lackschwarz von Kopf bis Fuß. In ihren breiten Schädeln, die wegen ihrer spitzen Ohren dem Kopf eines Hundes nicht unähnlich waren, leuchteten gelbe Augen. In der Hand hielt das erste fremde Wesen zu Richards Erstaunen einen Korkenzieher.

      »Sind Ihnen die Fragen ausgegangen, Mister Blunt? Oder dürfen wir Sie Richard nennen? Jetzt, wo Sie schon fast einer von uns sind?«

      »Sind sie …« Richard fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »… sind sie von dieser Welt?«

      »Wir wissen nicht, woher sie stammen oder seit wann sie hier sind.« Die Antwort kam von der blinden Charlotte. »Biologen, Chemiker, Mediziner und Verhaltensforscher arbeiten seit drei Monaten daran, so viel wie möglich über diese neue Spezies in Erfahrung zu bringen.«

      »Seit drei Monaten?« Richard konnte seinen Blick noch immer nicht von den beiden Kreaturen abwenden. »Wo haben Sie diese Wesen denn gefunden? Im Himalaya oder auf einer Vulkaninsel?«

      Der Professor klang amüsiert. »Hier in London. Vor drei Monaten sollte im Londoner Stadtteil Hackney ein Haus abgerissen werden. In dessen Überresten stießen die Arbeiter auf Anzeichen eines Gangsystems zwischen den Wänden und Böden. Einige der Zwischenräume erweckten den Eindruck, völlig irreale Ausmaße zu haben. Weil ihnen das alles seltsam vorkam, verständigten sie ihren Vorgesetzten. Der rief die Bauaufsichtsbehörde, die wiederum das Veterinäramt und dann wurde schließlich ich hinzugezogen. Gerade noch rechtzeitig, um diesen Fund so schnell wie möglich unter den Teppich zu kehren.«

      »Warum waren Sie der Meinung, dass das nötig sein könnte?« Richard beobachtete fasziniert, wie das erste Wesen mit dem Korkenzieher jetzt zu ihnen ins Zimmer zu starren schien. Konnten sie etwa auch von ihm gesehen werden?

      »Keine Angst.« Miss Heyworth tastete nach seiner Hand. »Man sieht uns nicht. Diese Scheibe ist nur von einer Seite durchsichtig.«

      Richard war beeindruckt von ihren empathischen Fähigkeiten. Wie sonst hätte sie wissen sollen, was er gerade gedacht hatte? Er warf ihr einen längeren Blick zu und erkannte im Licht der gelben Augen das Lächeln, das ihre Lippen umspielte.

      »Nein, ich kann Ihre Gedanken nicht lesen. Ich habe lediglich ein Gespür für die Stimmungen meiner Mitmenschen entwickelt.« Sie lächelte noch immer. »Ich sehe nicht, aber ich rieche, höre und fühle. Das reicht manchmal aus, um zu wissen, was in einem Menschen vor sich geht.«

      »Um auf Ihre Frage zurückzukommen«, mischte sich Professor Ingress ein, lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem Bauch. »Mir war gleich klar, dass dieses System aus Tunneln von einer Spezies angelegt worden sein musste, die entweder noch nie oder sehr lange nicht mehr gesehen worden war. Und da ich zu diesem Zeitpunkt das Potenzial dieser Entdeckung nicht einschätzen konnte, holte ich mir so schnell wie möglich einflussreiche und zahlungskräftige Unterstützung. Kein Reporter wagt es, über das Projekt Zerberus zu berichten. Und mir stehen nahezu unbegrenzte Mittel zur Verfügung, um


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