Ada (Band 2): Die vergessenen Orte. Miriam Rademacher

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte - Miriam Rademacher


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das eng beschriebene Blatt reichte.

      Sie war froh, wieder etwas von ihrer ältesten Freundin, ihrem ehemaligen Kindermädchen, zu hören. Als sie sich vor einigen Wochen voneinander verabschiedet hatten, lagen gerade erst tödliche Gefahren hinter ihnen beiden, und Valeries Leben hatte sich in einen Scherbenhaufen verwandelt.

      Eifrig begann sie zu lesen. »Sie hat also ein Zimmer in Jigs Elternhaus bezogen und sie verbringen täglich viele Stunden mit Pflanzenkunde und Geografieunterricht.«

      Jig, ein weiblicher Teenager, war ebenfalls Bestandteil des vergangenen Abenteuers gewesen, das hinter ihnen lag. Das verunsicherte Mädchen hatte eine Freundin wie Ada seitdem noch viel nötiger als Valerie selbst.

      »Und natürlich schmökern sie täglich in den ›Vergessenen Kreaturen‹, dem Nachschlagewerk unserer Väter«, las Valerie weiter, ließ den Brief sinken und lächelte Teddy an. »Ich bin mir fast sicher: Wenn wir Jig das nächste Mal begegnen, wird sie ein ganz neuer Mensch sein.«

      »Das denke ich auch«, stimmte ihr Teddy zu, legte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Während er versonnen in den blauen Himmel hinaufblickte, fuhr er fort: »Ich würde noch immer zu gern wissen, was aus meinem Vater geworden ist. Wenn er noch existiert, warum erhalte ich dann kein Lebenszeichen von ihm?«

      »Mein Vater ist nach meinem letzten Kenntnisstand in Australien und von ihm bekomme ich auch kein Lebenszeichen«, erwiderte Valerie schulterzuckend und vertiefte sich wieder in Adas Zeilen. »Doktor Warning und seinem gebrochenen Kiefer geht es besser, aber er hat sich in den letzten Wochen ausschließlich von Flüssignahrung ernähren müssen. Der arme Kerl. Er wird es sich in Zukunft überlegen, Leute für verrückt zu halten, nur weil sie Dinge hören oder sehen, die ihm bisher entgangen sind.«

      »Dein Mann hat ebenfalls geschrieben.« Teddy hielt Valerie einen noch geschlossenen Brief unter die Nase. »Ich hoffe, es steht nichts Unerfreuliches drin.«

      »Alles, was von Derek kommt, ist unerfreulich.« Valerie riss Teddy den Brief aus der Hand und öffnete das Kuvert. Beim Lesen der Worte war ihr plötzlich, als griffe eine kalte Hand nach ihrem Herzen. »Er schreibt, dass wir uns dringend unterhalten müssen. Es geht um unser Haus und seinen Verbleib. Was meint der denn damit?«

      »Du hättest eben doch mal auf einen seiner Anrufe reagieren sollen, dann wüsstest du, was er meint.« Teddy klang leicht vorwurfsvoll. »Vermutlich ist ihm der Kasten zu groß und er will ihn verkaufen.«

      »Das darf er nicht.« Valerie knüllte den Brief zusammen und ließ ihn auf die Decke fallen, wo er sofort Pauls Aufmerksamkeit erregte. »Was, wenn wieder eine Familie in dieses Haus zieht? Eine Familie mit Kindern? Teddy, dann wird sich alles ein weiteres Mal wiederholen!« Mit Schaudern dachte Valerie an die finsteren Kreaturen zurück, die in den Wänden des alten Hauses lebten, das ihr Vater ihr vor seiner Abreise auf einen anderen Kontinent vermacht hatte.

      Teddy setzte sich neben sie auf die Decke und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Wir werden einfach ein wachsames Auge auf das Haus haben, Valerie.«

      Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es reicht, ein Auge auf dieses Haus zu haben.«

      Valerie dachte an Sebastian, ein Mann von Mitte vierzig, fast so alt wie sie selbst, der sein ganzes Leben in der Obhut der Kreaturen, der Schwarzen Schrate, zugebracht hatte. Er war der einzige Grund, warum sie nicht schon längst einen Benzinkanister in dem alten Kasten ausgegossen und ein Streichholz hinterhergeworfen hatte. Auch ein Bulldozer schien ihr eine adäquate Lösung zu sein, um den Schraten den Garaus zu machen. Doch solange Sebastian vom Atem der Schrate körperlich abhängig war, kam dies nicht infrage.

      Irgendwie hatte Valerie gehofft, dass ihr Mann Derek allein in dem Haus weiterleben würde. Doch wenn er plante, es auf den Markt zu werfen, dann war das dunkle Gemäuer in dem schönen Garten eine gefährliche Falle für jede ahnungslose Familie, die auf der Suche nach einem Heim war.

      »Ich habe kein gutes Gefühl, Teddy«, flüsterte Valerie und faltete den Brief zusammen.

      Teddy schloss die Augen und lächelte. »Keine Bange, Val. Und wenn es wirklich wieder gefährlich wird, dann packen wir noch einmal unsere Golftasche und stürzen uns gemeinsam mit Ada wieder ins Abenteuer.«

      »Amtöa«, echote Paul und zerbiss grinsend den Wachsmalstift.

      Valerie pulte ihm nachsichtig die bunten Krümel aus dem Mund und ließ sie in einem Taschentuch verschwinden.

      Doch eine innere Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie konnte nicht länger hier draußen sitzen und die Herbstsonne genießen, sie musste wissen, was vor sich ging.

      »Teddy?«, rief sie so plötzlich aus, dass dieser zusammenzuckte und die Augen wieder aufriss. Valerie war eine Idee gekommen. »Darf ich den Computer in deinem Arbeitszimmer benutzen? Der Akku meines Handys ist leer und ich möchte mich mit jemandem beraten.«

      Teddy entspannte sich sichtlich und seufzte. »Herrje, das ist doch kein Grund, so zu schreien. Selbstverständlich kannst du den Computer benutzen. Wann immer du willst, das habe ich dir doch schon gesagt.«

      »Vielen Dank. Hab doch bitte ein Auge auf Paul, solange ich fort bin, ja? Und achte darauf, dass er nicht alle Stifte isst.«

      »Kein Problem«, antwortete Teddy und streifte sich die Schuhe von den Füßen.

      Valerie marschierte los, gerade auf das prächtige Haus ihres Freundes und Gastgebers zu.

      Sie eilte die große Freitreppe hinauf, durch das Portal und quer durch die dunkle Eingangshalle. Dann die Treppe hinauf, und schon die sechste Tür auf der linken Seite führte in Teddys Büro.

      Nie zuvor hatte Valerie so eine Verschwendung an Wohnfläche erlebt wie in diesem Haus, denn außer Teddy, Paul, ihr selbst und einer Haushälterin lebten im Haus nur noch zwei dienstbare Geister und das war wörtlich zu verstehen. Sie wäre vor Schreck fast wieder hinausgerannt, als sie bei ihrer Ankunft die beiden spitzgesichtigen Puke entdeckt hatte. Doch Teddy versicherte ihr, dass sie alt, gutmütig und sehr nützlich seien und überdies Glück ins Haus brächten, wenn man sie nur regelmäßig mit Nahrung und Aufmerksamkeit bedachte. Valerie blieb zwar den beiden kleinen Hausgeistern gegenüber zurückhaltend, die kaum größer waren als Paul, dafür aber wieselflink, doch ihr Sohn war begeistert von seinen neuen Spielgefährten.

       Valerie betrat das bis zur Decke vertäfelte Büro, das sie ein wenig an den ehemaligen Arbeitsplatz ihres Vaters erinnerte, und nahm hinter dem großen Schreibtisch Platz. Ein eingeschalteter Bildschirm auf der Arbeitsplatte erwartete sie.

      Sie meldete sich bei Facebook an und fand in ihrer übersichtlichen Freundesliste rasch Sebastians Namen, der jetzt oft genug ihren alten Laptop benutzte, um mit der Außenwelt in Kontakt zu treten.

      In den letzten Wochen hatten sie und Sebastian sich zahlreiche persönliche Nachrichten zukommen lassen. Doch gerade in den vergangenen Tagen war Valerie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Der Chatverlauf verriet ihr, dass ihre letzte Korrespondenz mit ihrem Freund hinter den Wänden eine halbe Woche zurücklag.

      Huhu, Sebastian.

      Doch er reagierte nicht auf diese Zeilen. Das war merkwürdig. Auf Facebook tummelte er sich üblicherweise am liebsten.

      Was ist bei dir los? Gibt es was Neues?

      Wieder keine Reaktion. Sie versuchte es mit Winken, Anstupsen und schließlich mit einem Sprachanruf. Sebastian war nicht da. Zumindest auf diesem Wege im Moment unerreichbar.

      Seufzend lehnte sich Valerie in Teddys knarrendem Ledersessel zurück. Ihr Blick fiel auf ein gerahmtes Foto, das einen noch sehr jungen Teddy an der Hand eines Mannes mit Pfeife zeigte.

      Der verschwundene Richard Blunt hatte eine sympathische Ausstrahlung gehabt, fand sie. Ein bisschen verwegen mit einem sehr markanten Gesicht, das er seinem Sohn nicht vererbt hatte.

      Wo er jetzt wohl sein mochte?

      Valerie starrte noch eine Weile auf den Bildschirm vor ihrer Nase, dann fasste sie einen Entschluss.


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