Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Alfred Schmidt
der Natur« die »naturhafte Vermittlung der Gesellschaft« voraussetzt, ist vielleicht erst heute im vollen Bewußtsein der Implikationen aussprechbar. Bei »jedem Schritt«, so Engels in der Dialektik der Natur, »werden wir ... daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, ... ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können«52. Deshalb sollten wir uns vor der Illusion hüten, im Sozialismus werde die Menschheit sich souverän über die Natur erheben. Deren noch so große Beherrschung, bemerkt hierzu Max Adler, beseitigt nicht »die Naturabhängigkeit ... der gesellschaftlichen Erscheinungen«53; sie ändert bloß die Form, worin sie sich durchsetzt. Wohl »verschiebt« sich der »Natureinfluß« im Verlauf der Geschichte. »Aber diese Verschiebung bedeutet kein Aufhören, ja nicht einmal eine Verminderung der Abhängigkeit des Menschen von den Naturfaktoren. Im Gegenteil, gerade Marx hat darauf hingewiesen, daß mit der Fortentwicklung der Beherrschung der Naturkräfte gleichsam die Breite der Berührung des Menschen mit der Natur wächst und daß er selbst in der Herrschaft über die Natur um so mehr in Abhängigkeit von ihr gerät.«54
Dennoch hat der Mensch es vermocht, der Erde seinen Stempel aufzudrücken. Marx weiß sich auf der Höhe weltgeschichtlichen Fortschritts, wenn er in der Kritik des Gothaer Programms feststellt, »Quelle von ... Reichtum« werde die Arbeit nur insofern, als sich »der Mensch ... von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und gegenstände verhält, sie als ihm gehörig behandelt«55. Entsprechend figuriert im III. Band des Kapitals die Erde »als das ursprüngliche Beschäftigungsfeld der Arbeit, als das Reich der Naturkräfte, als das vorgefundne Arsenal aller Arbeitsgegenstände.«56. Natur erscheint bei Marx immer schon im Horizont geschichtlich wechselnder Formen ihrer gesellschaftlichen Aneignung.57 Über ihre eigene Beschaffenheit verlautet lediglich, daß sie, als »materielles Substrat« von Gebrauchswerten, »ohne Zutun des Menschen ... vorhanden ist«58. Dieser – im vorliegenden Buch materialistisch interpretierte – Sachverhalt kann jedoch am gleichzeitigen Anthropozentrismus der Marxschen Naturkonzeption nichts ändern, in der sich die Rolle des modernen, die Welt umgestaltenden Subjekts reflektiert.59
In dem Maße, wie der Verfasser die »weltkonstitutive« Funktion der historischen Praxis hervorhob, hoffte er dem Selbstverständnis von Marx gerecht zu werden. Letzteres freilich hat sich unterdessen als wenig konsistent erwiesen. Das gilt zumal für den »praktischen« Wirklichkeits-Bezug des Marxschen Denkens, der sich in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten anders darstellt als in der Kritik des Gothaer Programms, wo er sich verfestigt zum historischen Apriori schrankenloser Aneignung der Natur.
Wie schon im Postscriptum 1971 ist auch hier an Feuerbach wenigstens zu erinnern, über den Marx und Engels allzu rasch hinweggegangen sind.60 Was sie als Mangel seines »anschauende[n] Materialismus«61 beanstandeten: daß er das Sein der Dinge nicht antastet, wird heute als eine Möglichkeit unverstellten Natur-Zugangs wiederentdeckt. Feuerbach konfrontiert im Wesen des Christentums das neuzeitliche Bewußtsein mit der großartigen Naivität der Griechen, deren Verhältnis zur Welt gleichzeitig theoretisch und ästhetisch ist; »denn die theoretische Anschauung ist ursprünglich die ästhetische, die Ästhetik die prima philosophia«62. Für die Alten ist »der Begriff Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der Göttlichkeit selbst«63. Mensch und Welt befinden sich in Harmonie. »Wem die Natur«, so Feuerbach, »ein schönes Objekt ist, dem erscheint sie als Zweck ihrer selbst, für den hat sie den Grund ihres Daseins in sich«; er setzt als »Grund der Natur« eine »in seiner Anschauung sich betätigende Kraft«64. Freien Spielraum gewährt der Mensch dieser Stufe allein seiner Phantasie. »Er läßt hier«, betont Feuerbach, »indem er sich befriedigt, zugleich die Natur in Frieden gewähren und bestehen, indem er seine ... poetischen Kosmogonien nur aus natürlichen Materialien zusammensetzt.«65 Sobald dagegen, wie in der Moderne, der Mensch die Welt vom »praktischen Standpunkt« aus betrachtet, gar diesen zum theoretischen erhebt, »da ist er entzweit mit der Natur, da macht er die Natur zur untertänigsten Dienerin seines selbstischen Interesses, seines praktischen Egoismus«66.
Es ist klar, daß Feuerbachs Rekurs auf das vortechnisch-mythische Weltbild der Griechen kein bloßer Reflex romantischer Sehnsüchte ist. Feuerbach erinnert an die schon zu seiner Zeit vielfach verschüttete Möglichkeit, Natur nicht nur als Objekt der Wissenschaft oder Rohstoff zu erfahren, sondern »ästhetisch« im sinnlich-rezeptiven wie künstlerischen Sinn. Aneignende Praxis soll den Dingen zu Ausdruck und Sprache verhelfen. Dazu aber bedarf es eines philosophischen Ansatzes, der über die mit dem Subjekt-Objekt-Schema des Arbeits und Erkenntnisprozesses gesetzte Trennung von Mensch und Natur hinaus ist. Auszugehen wäre vom Naturganzen (und der Naturentsprungenheit des Menschen). Eben darin bestand nach Marx der »aufrichtige Jugendgedanke«67 Schellings. Im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799 wird der Natur »unbedingte Realität« zuerkannt: »Autonomie« und »Autarkie«. Natur, sagt Schelling, ist »ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisirendes Ganzes«68.
Heuristisch brauchbar ist auch Engels’ These von der Natur als »Gesamtzusammenhang«69, als in sich reich gegliedertes System universeller Wechselwirkungen. Innerhalb dieses in originärer Selbstgegebenheit sich darbietenden Systems bildet der durch materielle Produktion vermittelte Austausch von Mensch und Natur nur eine von zahllosen Interaktionen. Dadurch wird der bisherige, an menschlicher Praxis und Geschichte orientierte Denkansatz nicht hinfällig, aber relativiert. Der historisch-dialektische erweitert sich zum »ökologischen Materialismus«.70 Dieser begreift, daß die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen umschlossen und getragen wird von einer elementarischen Dialektik von Erde und Mensch, den ungeschichtlichen Voraussetzungen aller Geschichte. Hierin bewährt sich der Gedanke, daß die Welt eine materielle Einheit bildet. – Viel wäre bereits gewonnen, wenn sich die Menschheit, unter Verzicht auf schrankenloses Wachstum, darauf einrichten könnte, künftig in besserem Einklang mit dem System der Natur zu leben.
Frankfurt am Main, Anfang April 1993 Alfred Schmidt
Anmerkungen zum Vorwort des Verfassers
zur französischen Ausgabe
1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band I.3, Frankfurt am Main 1980, S. 1232.
2 Cf. hierzu Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?, München 21985, S. 110.
3 Cf. Alfred