Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Alfred Schmidt
zur KulturismusKritik, Frankfurt am Main 1980.
Parsons, Howard L. (ed.): Marx and Engels on Ecology, Westport, Conn. 1977.
Schmidt, Alfred: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 31988.
Schmidt, Alfred: Humanismus als Naturbeherrschung, in: Jörg Zimmermann (Hrsg.), Das Naturbild des Menschen, München 1982.
Schmidt, Alfred: Praxis, in: Ders., Kritische Theorie. Humanismus. Aufklärung, Stuttgart 1981.
Woltmann, Ludwig: Der historische Materialismus, Düsseldorf 1900.
Die Menschheit wird Herr in der Natur, aber der Mensch wird Sklave des Menschen oder Sklave seiner eigenen Niedertracht. Sogar das reine Licht der Wissenschaft kann, so scheint es, nur vor dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit strahlen. Das Resultat aller unserer Erfindungen und unseres Fortschritts scheint zu sein, daß materielle Kräfte mit geistigem Leben ausgestattet werden und die menschliche Existenz zu einer materiellen Kraft verdummt. Karl Marx
(Nach einem von D. Rjazanow entdeckten Manuskript. In: »Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär«. Wien – Berlin 1928, S. 42)
Einleitung
Die Arbeit ist ein Beitrag zur philosophischen Marxinterpretation. Ihr Interesse gilt einem Begriff, dem im Marxschen Denken eine bloß peripherische Bedeutung zuzukommen scheint, dem Begriff der Natur. Marx kommt in seinen Schriften auf die Natur »an sich« nur äußerst selten zu sprechen. Das ist jedoch kein Kriterium für ihre geringe Bedeutung in der Theorie der Gesellschaft, sondern ergibt sich aus deren besonderer Blickrichtung.
Als Kritik der politischen Ökonomie stellt die Theorie der Gesellschaft den Produktionsprozeß der materiellen Güter als eine »Einheit von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeß«1 dar, wobei sie, im Anschluß an die Ricardosche Ökonomie, ihr Hauptaugenmerk auf den Tauschwert der Ware richtet, der als Vergegenständlichung abstrakt-menschlicher Arbeit, ausgedrückt in gesellschaftlich notwendigen Zeitmengen, jeder Naturbestimmtheit bar ist.
Die Naturalform der Ware, das, was Marx ihren Gebrauchswert nennt, tritt in der Analyse des Wertbildungsprozesses nur auf, sofern sie »materielles Substrat, Träger des Tauschwerts«2 ist. Demgegenüber soll hier, wo es primär um das Philosophische an der Marxschen Theorie geht, der Produktionsprozeß vor allem als Gebrauchswerte hervorbringender Arbeitsprozeß in seiner geschichtlichen Bewegung betrachtet werden.
Was den Marxschen Naturbegriff im Ansatz von anderen Naturkonzeptionen unterscheidet, ist sein gesellschaftlich-geschichtlicher Charakter. Marx geht von der Natur aus als »der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände«3, das heißt, er sieht sie von vornherein relativ auf menschliche Tätigkeit. Alle sonstigen Aussagen über Natur, seien sie spekulativer, erkenntnistheoretischer oder naturwissenschaftlicher Art, setzen die Gesamtheit der technologisch-ökonomischen Aneignungsweisen der Menschen, gesellschaftliche Praxis, jeweils schon voraus.
Wie die erscheinende Natur und alles Naturbewußtsein im Laufe der Geschichte immer mehr zu einer Funktion objektiver Prozesse der Gesellschaft herabgesetzt werden, so erweist sich umgekehrt für Marx die Gesellschaft ebensosehr als ein Naturzusammenhang. Nicht nur in dem unmittelbar kritisch gemeinten Sinne, daß die Menschen ihrer eigenen produktiven Kräfte gegenüber der Natur noch immer nicht Herr sind, daß ihnen diese Kräfte als die organisierte, feste Form einer undurchschauten Gesellschaft gegenübertreten, als »zweite Natur«, die ihren Schöpfern ein eigenes Wesen entgegensetzt, sondern darüber hinaus in dem »metaphysischen« Sinne einer Theorie des Weltganzen.
Auch der begriffene und beherrschte Lebensprozeß der Menschen bleibt ein Naturzusammenhang. Unter allen Formen der Produktion ist die menschliche Arbeitskraft »nur die Äußerung einer Naturkraft«4. In der Arbeit tritt der Mensch »dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber«5. »Indem er ... auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.«6 Die Dialektik von Subjekt und Objekt ist für Marx eine Dialektik von Bestandteilen der Natur.
Thesenhaft ließe der Inhalt der vorliegenden Schrift sich bezeichnen als ein Versuch, die wechselseitige Durchdringung von Natur und Gesellschaft, wie sie innerhalb der Natur als der beide Momente umfassenden Realität sich abspielt, in ihren Hauptaspekten darzustellen. Als Quellentexte legt sie das gesamte zugängliche Werk von Marx zugrunde. Sie zieht die Engelsschen Schriften zur Verdeutlichung der Marxschen Position hinzu, soweit sie nicht, gemessen an dieser Position, der Kritik verfallen. Das gilt insbesondere für die Engelssche Fassung des Begriffs der Naturdialektik.
Wo auf die Marxschen Frühschriften eingegangen wird, ist es dem Verfasser mehr darum zu tun, den genetischen Zusammenhang zu bestimmten Motiven des mittleren und reifen Marx herzustellen als um den heute so verbreiteten wie verfehlten Versuch, das eigentlich philosophische Denken von Marx auf das in diesen Texten Gesagte, namentlich auf die Anthropologie der Pariser Manuskripte zu reduzieren. Aus der Überlegung heraus, daß Marx keineswegs da am philosophischsten ist, wo er sich der traditionellen Schulsprache der Philosophen bedient, werden hier in weit höherem Maße, als es sonst bei philosophischen Marxinterpretationen üblich ist, die politischökonomischen Schriften des mittleren und reifen Marx zu Rate gezogen, vor allem der für das Verständnis der Beziehung von Hegel und Marx äußerst wichtige »Rohentwurf« des »Kapitals«, der seither so gut wie unausgewertet geblieben ist.
Ganz abgesehen vom Umfang der zu berücksichtigenden Marxliteratur stellen sich einem Versuch, den Naturbegriff des dialektischen Materialismus darzustellen, erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Bei Marx liegt eine systematische Theorie der Natur, die sich aller spekulativer Implikationen bewußt wäre, nicht vor. Es kam daher darauf an, aus den Hauptphasen der Entwicklung des Marxschen Denkens die oft entlegenen Motive zum Thema zusammenzutragen. Bei der außerordentlichen Verflochtenheit dieser Motive ließen sich gelegentliche Wiederholungen, Überschneidungen, auch Rückverweise nicht ganz vermeiden, so daß die in den einzelnen Kapiteln bzw. Abschnitten behandelten Sachverhalte sich nicht immer völlig mit dem in den Überschriften Angekündigten decken.
1 Das Kapital, Bd. I., S. 195.
2 A. a. O., S. 194.
3 Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx/Engels, Ausgew. Schriften, Band II, Berlin 1956, S. 11.
4 A. a. O.
5 Das Kapital, Bd. I., S. 185.
6 A. a. O.
I. Kapitel
Karl Marx und der philosophische
Materialismus
A) Der nicht-ontologische Charakter des Marxschen Materialismus
Die Frage nach dem Marxschen Naturbegriff erweitert sich notwendig zu der nach dem Verhältnis der materialistischen Geschichtsauffassung zum philosophischen Materialismus überhaupt. Mit ihr hat sich die Marxinterpretation nur selten und in wenig befriedigender Weise beschäftigt1. Bei