Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
sie ihn.
»Dumme Vase?«, fragte Hans-Joachim vorwurfsvoll. »Das war ein Erbstück von Großtante Valeri. Meine Eltern haben immer sorgfältig …«
»Wenn es ein Erbstück ist, so hätte es ohnehin eines Tages Peter gehört. Er hat also nur sein Eigentum beschädigt«, unterbrach Andrea ihren Mann.
Über diese Beweisführung musste Hans-Joachim so lachen, dass er seinem Sohn verzieh.
*
Beinahe hätte Betti mit der Zeit Evis Vater vergessen. Doch Evi selbst war es, die eines Tages das Gespräch auf ihn brachte und Bettis nagende Zweifel zu neuem Leben erweckte.
Betti hatte für Evi einen roten Faltenrock und ein rotweiß gemustertes Jäckchen gestrickt und ließ das Kind nun die beiden Kleidungsstücke probieren.
Erst sah Evi an sich herunter, aber dann lief sie zum nächsten Spiegel, um sich und Bettis Erzeugnisse gebührend zu bewundern. Sie drehte sich nach rechts und nach links und war mit ihrer Erscheinung offenbar sehr zufrieden.
»Na, gefällt es dir?«, fragte Betti, die insgeheim von ihrem Werk sehr angetan war.
»Ja, es ist sehr schön!« Evi drehte sich noch einmal, sodass das Röckchen flog. »Das hast du schön gemacht«, sagte sie zu Betti. Doch zog sie ihre kleine Stirn kraus. »Schade, dass Vati mich nicht sehen kann«, meinte sie bedauernd. »Sicher würde ihm mein neues Gewand auch gefallen.«
»Hast du … Möchtest du deinen Vater wiedersehen?«, fragte Betti mit bebender Stimme.
Evi zögerte nicht mit der Antwort. »Ich werde ihn wiedersehen«, erklärte sie bestimmt. »Wenn ich groß bin, fahre ich zu ihm und pflege ihn so lange, bis er wieder gesund ist.«
Betti war sprachlos. Da lebte sie so eng mit dem Kind zusammen und hatte von diesem Vorsatz nie etwas geahnt. Zugleich musste sie über die Naivität des Kindes ein wenig lächeln, obwohl sie traurig war. »Ach, Evilein«, sagte sie, »es dauert doch noch so lange, bis du groß bist.«
»Dann möchte ich schon früher zu meinem Vati fahren«, erwiderte Evi.
»Aber, Evi, bist du denn nicht gern bei mir?«, fragte Betti.
»O ja, schon, aber Vati …« Evi stockte, und Betti sah ein, dass sie das Kind in keinen Zwiespalt stürzen durfte.
Betti überlegte und kam dann plötzlich zu einem Entschluss. »Weißt du was, Evi?«, sagte sie spontan. »Ich werde Frau von Lehn – Tante Andrea – um Urlaub bitten und mit dir zu deinem Vati fahren.«
»Oh, wirklich? Wir werden Vati besuchen?«
»Ja, das werden wir. So bald wie möglich fahren wir los.«
Es lag nicht in Bettis Natur, ein getroffenes Vorhaben lang aufzuschieben. Deshalb setzte sie Andrea von Lehn umgehend von ihrem Plan in Kenntnis.
Andrea war darüber nicht sehr begeistert. »Sind Sie sicher, dass dieser Besuch Evi guttun wird?«, gab sie zu bedenken.
»Ja, warum denn nicht?«
»Es ist möglich, dass sich der Vater dem Kind gegenüber ablehnend verhält«, meinte Andrea nachdenklich.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Betti. »Sogar Helmut ist in letzter Zeit sehr freundlich zu Evi, da wird doch ihr eigener Vater … Nein, ich bin überzeugt, er muss sein Kind einfach gernhaben.«
»Wie Sie meinen«, entgegnete Andrea etwas reserviert. »Ich will Ihnen nichts in den Weg legen. Ich hoffe nur, dass Sie und das Kind nicht enttäuscht werden. Kennen Sie überhaupt die Adresse von Herrn Gleisner?«
»Nein.«
»Ich werde mich erkundigen und nachsehen, welcher Zug für Sie am günstigsten ist. Selbstverständlich bringe ich Sie und das Kind zur Bahn.«
*
Insgeheim sah Betti einer neuerlichen Fahrt mit dem Zug nur mit Grauen entgegen. Aber es half nichts, sie musste ihre Furcht überwinden und durfte sie dem Kind nicht zeigen.
Mit gemischten Gefühlen verabschiedete sie sich von Andrea von Lehn, die sie und Evi wie versprochen zum Bahnhof nach Maibach gebracht hatte.
»Und schicken Sie mir ein Telegramm, wann Sie zurückkommen?«, rief Andrea ihr nach. Betti hatte den genauen Termin ihrer Rückkehr nicht angeben können, da es schließlich ganz auf den Empfang ankam, der ihr und dem Kind im Bayerischen Wald bereitet werden würde.
Evi schien keine bleibende Abneigung gegen Bahnfahrten davongetragen zu haben. Sie belegte ein leeres Abteil mit Beschlag, stürzte zum Fenster und beugte sich hinaus, um Tante Andrea zuzuwinken. Betti verstaute den Koffer und eine Reisetasche. Viel Gepäck hatten sie nicht bei sich, denn sie würden umsteigen müssen.
Betti biss sich auf die Lippen und wunderte sich über Evis Unbefangenheit. Jetzt, wo sie im Zug saß, kehrte die Erinnerung an das Unglück in vollem Umfang zurück. Sie glaubte, neuerlich das Bersten und Krachen und die Schreie der Verletzten zu vernehmen. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Was hast du, Betti?«, fragte Evi.
»Du bist ja ganz blass. Ist dir nicht gut?«
Betti riss sich zusammen. Evi war die Letzte, der sie ihre Angst eingestehen konnte. Zum Glück ging die Kleine von selbst über ihre Frage hinweg. »Freust du dich, dass du meinen Vati kennenlernen wirst?«, erkundigte sie sich und brachte Betti damit neuerdings in Verlegenheit. Mit einem Male kam ihr ihr Plan ungeheuerlich vor. Sah es nicht so aus, als ob sie sich einem wildfremden Menschen aufdrängen wollte? Sie hätte wenigstens vorher schreiben und sich erkundigen sollen, ob ihr Besuch überhaupt willkommen war. Doch nun war es zu spät dazu.
»Ja, ich freue mich«, sagte Betti ein wenig lahm zu Evi.
»Ich bin bloß müde. Gestern Abend war ich lange auf. Ich musste doch den Koffer packen und meine Bluse fertignähen …«
»Meine Bluse ist so schön. Vati wird staunen!« Evi kletterte auf Bettis Schoß und schlang ihre Arme um deren Hals. Dann plapperte sie munter drauflos und forderte Bettis ungeteilte Aufmerksamkeit.
Später stiegen andere Reisende zu, und Evi ergötzte sie mit Erzählungen von Peterles Streichen.
»Peterle ist wohl dein kleiner Bruder?«, fragte eine dicke ältere Dame.
»Nein«, erwiderte Evi und wurde nachdenklich. »Leider nicht.« Dann wandte sie sich an Betti und sagte: »Ich hätte so gern ein Brüderchen. Könntest du nicht schauen, dass ich eins bekomme?«
Die Anwesenden hielten Betti natürlich für Evis Mutter und lachten. Betti errötete und wechselte rasch das Thema.
Je näher sie ihrem Reiseziel kamen, desto aufgeregter wurde Evi. Betti erging es nicht anders. Im Stillen verwünschte sie, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Was würde Herr Gleisner von ihr denken? Aber eigentlich war das gleichgültig. Die Hauptsache war, dass Evi wieder mit ihrem Vater zusammenkam. Was immer Erich Gleisner für ein Mensch sein mochte, Betti war noch immer überzeugt, dass er sich über den Besuch seiner Tochter freuen würde.
Endlich verließen sie den Zug.
»Müssen wir noch einmal umsteigen?«, fragte Evi.
»Nur mehr in ein Taxi«, erwiderte Betti und streckte sich. Sie war steif nach der langen Fahrt. Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Zettel, auf dem sie die Adresse Erich Gleisners notiert hatte.
Als Betti die Adresse dem einzigen Taxichauffeur, den sie vor dem Bahnhof entdecken konnte, nannte, kratzte dieser sich daraufhin am Kopf, überlegte eine Weile und zog schließlich einen Plan zurate.
»Das ist ziemlich entlegen – mitten im Wald«, stellte er fest. »Sind Sie sicher, dass Sie dorthin wollen?«
»Natürlich«, erwiderte Betti und stieg in das Taxi um.
Der Chauffeur zuckte mit den Schultern und fuhr los.
»Na, erinnerst du dich