Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
bleiben sie in Sophienlust.«
»Ach, so ist das«, murmelte Nick. Er war etwas ärgerlich auf sich selbst, weil er an diese Möglichkeit noch gar nicht gedacht hatte. »Siehst du, Mutti, dann war es doch gut, dass wir in den alten Gang geschlüpft sind. Hätten wir die Kassette nicht gefunden, wäre Klaus Herzberg nicht nach Sophienlust gekommen, und dann hätte Claudia ihn auch nicht kennengelernt. Aber du brauchst keine Angst zu haben, Mutti. Ich tu’s trotzdem nicht wieder.«
»Du bist schon in Ordnung, Nick«, lobte Denise ihren Ältesten. »Übrigens ist euer Finderlohn gekommen. Es sind knapp zwanzig Euro.«
Der Junge fuhr herum und starrte seine Mutter ungläubig an. »So wenig?«
»Das habe ich auch gesagt. Ich habe auch erzählt, dass ihr einen Ausflug machen wolltet. Zufällig hat Herr Ertel das gehört. Er hat gleich einen Scheck ausgeschrieben, den ich euch geben soll. Der Betrag reicht für einen besonders schönen Ausflug.«
»Mit Picknick und Mittagessen in einer Gastwirtschaft?«
»Und Eis und Kuchen!« Denise lachte.
»Mensch, klasse!«, entfuhr es dem Jungen. »Warum sagst du mir denn das erst jetzt? Ich muss sofort Pünktchen und Fabian, Angelika und Irmela alles erzählen. Und natürlich Tanja und Torsten.«
Am liebsten wäre der Junge jetzt aus dem Wagen gestiegen und den Weg zurückgelaufen. Doch Denise tröstete: »Morgen, Nick.«
»Und wo ist denn nun der König?« Leichte Ungeduld schwang in Heidis Stimme mit.
»Was für ein König?«, fragte Dominik von Wellentin-Schoenecker verblüfft.
»Na, der König, der in dem Schloss wohnt«, erklärte die kleine Heidi. »Warum lachst du, Nick?«
»Du kleines Dummchen, hier wohnt doch kein König mehr.«
»Ach!« Heidi Holsten war offensichtlich enttäuscht. Sie überlegte eine Weile und meinte dann: »Von außen hat das Schloss so hübsch ausgesehen. Beinahe so wie in meinem Märchenbuch. Du weißt schon, das Schloss, in das der Königssohn das Schneewittchen führte. Bist du sicher, dass es hier wirklich keinen König gibt?«
»Ganz sicher.«
»Gibt es wenigstens eine Prinzessin? Vielleicht ist sie verzaubert oder in einem Turm versteckt.«
Nick musste Heidi neuerlich enttäuschen. Er gab zu, dass die Hohenzollernburg Hechingen zwar über etliche Türme verfüge, aber in keinem davon sei eine verwunschene Prinzessin verborgen.
Es war der Wunsch der Huber-Mutter gewesen, einmal das Schloss der früheren Kaiser zu besichtigen. Der jugendlichen Bewohner des Kinderheims Sophienlust, in dem die Greisin ihren Lebensabend verbrachte, hatten diesen Einfall begeistert aufgegriffen, und da Denise von Schoenecker nichts dagegen einzuwenden gehabt hatte, war der Ausflug an diesem sonnigen Tag durchgeführt worden. Nun aber zeigten sich bei den Teilnehmern bereits die ersten Ermüdungserscheinungen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Schauen so anstrengend ist«, murmelte die Huber-Mutter. »Wenn ich im Wald bin und Kräuter sammle, dann spüre ich meine Füße nie, aber jetzt …«
»Tun dir die Füße weh?«, fragte Heidi und fügte ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Vorhin habe ich in einem Saal einige Sessel gesehen. Es war zwar eine Schnur davor gespannt, aber wenn du dich bückst, kannst du unten durchkriechen und auf dem Sessel ausruhen.«
»Aber, Heidi!«, rügte Nick. »Die Sessel, von denen du sprichst, sind Ausstellungsstücke. Die darf man nicht benützen.«
»Wozu sind sie denn gut?«
»Zum Ansehen.«
Heidi schüttelte verwundert den Kopf. Das ging über ihre Begriffe. »Es ist langweilig hier«, klagte sie. »Komm schon weiter, Nick! Warum starrst du stundenlang diese komischen Papierblätter an? Wieso sind die hinter Glasscheiben?«
»Das sind alte Dokumente«, belehrte Nick die Kleine.
»Und die interessieren dich? Was meinst du dazu, Fabian?« Heidi suchte einen Verbündeten.
»Ich weiß nicht …« Fabian zögerte.
»Also, wenn du mich fragst, ich finde diese Dokumente stinkfad«, gab Nicks Halbbruder Henrik kund.
»Henrik!«, mahnte seine Mutter Denise automatisch, während sie mit besorgten Blicken die Huber-Mutter beobachtete. Die alte Frau wirkte müde. Heidi hatte recht, es war Zeit, dass die Huber-Mutter sich ausruhte.
»Ich glaube, wir sollten für heute Schluss machen und die Besichtigung abbrechen«, sagte Denise entschlossen.
»Aber, Mutti, wir haben kaum die Hälfte gesehen«, wandte Nick ein.
»Meinetwegen dürfen die Kinder nicht zu kurz kommen. Ich halte schon durch«, behauptete die Huber-Mutter tapfer.
Denise entgegnete jedoch trotzdem: »Es ist auch für die kleineren Kinder zu viel. Auf dem Weg hierher habe ich eine Wiese gesehen. Dorthin werden wir gehen. Heidi kann dort spielen, und die Huber-Mutter kann sich ein wenig hinlegen.«
»Ja, fein!«, rief Heidi. Seit sie erfahren hatte, dass es in dem Schloss weder einen König noch eine Prinzessin gab, war in ihr jegliches Interesse an dem Schloss erloschen.
»Zu Hause kannst du genauso gut auf einer Wiese spielen. Dazu sind wir nicht hierhergekommen«, murrte Nick.
»Ich habe nichts dagegen, wenn du mit Schwester Regine und den größeren Kindern noch hierbleibst. Seht euch alles in Ruhe an«, schlug Denise vor.
»Gut. Wenn wir fertig sind, kommen wir dann auch auf die Wiese«, erwiderte Nick.
So war das Problem zur Zufriedenheit aller gelöst. Der Chauffeur Hermann beschloss, ebenfalls noch im Schloss zu bleiben. Er reichte Denise seine Wagenschlüssel und meinte dabei: »In dem Schulbus, den ich hierhergefahren habe, liegt unten eine Wolldecke und ein kleines Polster. Wenn die Huber-Mutter ein kleines Nickerchen machen möchte, könnte sie sich drauflegen.«
Denise suchte also zusammen mit der Huber-Mutter und den kleineren Kindern die Wiese auf. An dessen Rand, im Schatten einer großen Buche, breitete sie fürsorglich die Decke für die alte Frau aus.
»Huber-Mutter, erzählst du uns eine schöne Geschichte?«, bettelte Fabian, nachdem sich die alte Frau auf die Decke niedergelassen hatte.
»Hm – ein anderes Mal. Ich merke erst jetzt, wie müde ich bin. Es ist so still hier. Ich werde gleich einschlafen.«
»Komm, Fabian, lass die Huber-Mutter ein Weilchen allein«, sagte Heidi und zog den Spielgefährten fort. »Wir wollen über die Wiese laufen. Siehst du die Autos dort drüben? Ich glaube, dort ist ein Wasser, ein Bach oder ein Teich. Den wollen wir uns anschauen.«
Die Kinder liefen weg, und Denise folgte ihnen, allerdings in einem gemächlicheren Tempo.
Nachdem sich alle entfernt hatten, drehte sich die Huber-Mutter zur Seite und schloss die Augen. Sie fand, es war angenehm, im weichen Gras zu liegen und die schmerzenden Beine ausstrecken zu dürfen. Sie vernahm die Stimme der Kinder nur leise und verschwommen. Und dann war sie auch schon eingeschlafen.
Das unbestimmte Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, weckte die Greisin. Blinzelnd öffnete sie die Augen. »Bist du es, Heidi?«, murmelte sie schlaftrunken. »Ist es schon spät? Müssen wir heimfahren?«
Da sie keine Antwort erhielt, setzte sich die Huber-Mutter auf, rieb sich die Augen und blickte sich um. Das, was sie sah, versetzte sie in Staunen. Neben ihr stand ein kleines Mädchen. Aber es war nicht Heidi, sondern ein völlig fremdes Kind. Es stand regungslos da und blickte sie stumm an.
Das Kind war hübsch. Es hatte lange blonde Haare und große braune Augen. Trotzdem konnte sich die Huber-Mutter eines leichten Unbehagens