Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Tatsächlich war jetzt die Erinnerung an sie so stark, dass der Arzt die Tränen nicht zurückhalten konnte. Kein einziges Wort brachte er hervor. Es war Denise von Schoenecker, die ihn in diesen Minuten verständnisvoll mit seinen Kindern allein gelassen hatte, von Herzen dankbar.
»Papi, warum warst du so lange weg?«, erkundigte sich Sanny und schmiegte sich glücklich an ihren Vater.
»Ich habe gearbeitet«, antwortete Dr. Amberg und fühlte, dass dies eine schlechte Entschuldigung war. Doch wie sollte er einem dreijährigen Mädchen erklären, dass er hatte warten wollen, bis die Wunden ein wenig verheilt waren? Wunden, die der Tod seiner Frau hinterlassen hatte?
»Mami?«, piepste der kleine Dany, der sich nur noch dunkel daran erinnern konnte, dass an der Seite des Vaters eine schöne blonde Frau gelebt hatte, die unendlich lieb zu ihm gewesen war.
Strafend sah Sanny ihr Brüderchen an. »Weißt du nicht mehr, dass uns die Tante erzählt hat, dass Mami bei den Englein ist und uns durch die Wolken sehen kann? Jeden Tag. Sogar nachts.«
Dany verzog weinerlich das Gesichtchen. Für ihn hatte diese Geschichte nichts Tröstliches.
Helmut Amberg schlang seinen Arm noch fester um den kleinen Sohn. Dessen Tränen zeigten ihm, dass das Kind sich nach der Mutter sehnte. Seine Pflicht als Vater war es, dafür zu sorgen, dass die Geschwister recht bald wieder in einer richtigen Familie leben konnten. Ob er vielleicht doch Martha Thaler heiraten sollte?
Inzwischen war der Arzt zweimal mit ihr ausgegangen, doch jeder dieser Abende war unbefriedigend für ihn gewesen. Von gegenseitigem Verstehen oder gar von Zuneigung konnte keine Rede sein. Dr. Amberg war unglücklich darüber. Denn er war fest überzeugt, dass dies nur an ihm lag. Er war einfach nicht in der Lage, sich mit einer Nachfolgerin für Eva zu befassen. Der Gedanke, dass diese Fremde ihre Stelle einnehmen und im Haus wirtschaften würde, dass sie mit ihm im Esszimmer sitzen und sogar das Bett neben ihm benutzen würde, war ihm schrecklich.
Nein, er wollte keine neue Ehe, keine neue Gemeinschaft. Andererseits aber hatte er den Kindern gegenüber die Verpflichtung, ihnen das Elternhaus zu erhalten.
»Die Tante ist ganz lieb. Sie hat ein kleines Mädchen gehabt, das ist auch bei den Englein, genau wie Mutti.« Sanny umarmte ihren Vati immer wieder. Mit aller Kraft presste sie ihren kleinen Körper an dessen Brust. »Und manchmal …, manchmal sagt sie Chérie zu mir. Weil sie aus Fran…, Französisch kommt.«
»Frankreich«, verbesserte Helmut lächelnd. Denise von Schoenecker hatte ihm schon erzählt, dass sie eine neue Betreuerin für die Kleinsten eingestellt hatte.
Mit den Kindern auf dem Arm ging Dr. Amberg Denise von Schoenecker entgegen, die jetzt gerade aus dem Wintergarten kam. Voll Herzlichkeit reichte sie dem Vater ihrer Schützlinge die Hand.
»Sanny und Dany haben oft nach Ihnen gefragt. Erst seit Florence Theger bei uns ist, sind sie zufriedener.« Denise stellte die junge Französin, die an ihre Seite getreten war, vor.
Helmut Amberg sah in ein paar wundervolle braune Augen, die zu einem ungewöhnlich aparten Gesicht gehörten. Weiche Locken in der Farbe frischer Kastanien unterstrichen den mädchenhaften Reiz der jungen Französin.
Der Arzt blinzelte, mehr erstaunt als verlegen. Eigentlich konnte er sich nicht erinnern, jemals einen so schönen Menschen gesehen zu haben. Diese junge Frau war vollkommen. Alles an ihr war harmonisch.
Er reichte Florence die Hand und fühlte dabei, dass sein Herz ein wenig rascher schlug. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau gab es wieder etwas, was ihn richtig interessierte.
»Ihre Kinder und ich haben viel Spaß zusammen«, sagte Florence in ihrem fremdländisch klingenden Deutsch. »Ich mag sie sehr gern.«
Die junge Frau lächelte. Sofort streckte Sanny verlangend die Händchen nach ihr aus und wechselte zu ihr über. Es war nicht zu verkennen, dass das kleine Mädchen schon jetzt sehr an Florence hing. Glücklich schmiegte es sein Gesichtchen an deren Wange.
»Da …, da haben wir Glück gehabt«, stammelte Dr. Amberg und kam sich richtig unbeholfen vor. Diese junge Dame faszinierte ihn. Tief in seinem Inneren regte sich etwas, was er eigentlich für tot gehalten hatte. Er war gar nicht so immun gegen weibliche Schönheit, wie er bisher geglaubt hatte.
»Ja«, bestätigte Denise in ihrer charmanten Art. »Ohne Florence wäre es schwierig gewesen, sich intensiv um die Kleinen zu kümmern. Denn leider haben wir im Moment sehr wenig Personal.«
»Wir wollten doch spazierengehen. Nehmen wir Vati jetzt mit?«, erkundigte sich Sanny mit schiefgelegtem Köpfchen.
»Wenn er mag?« Etwas unsicher sah Florence auf den großen breitschultrigen Mann, der eigentlich wie ein Sportler aussah. Seine Haut war frisch und sonnengebräunt, sein Körperbau war schlank und athletisch. Etwas sonderbar sahen seine klugen grauen Augen sie an. Oder kam es ihr nur so vor?
»Wir gehen zum See, Vati. Und dann werfen wir Steinchen hinein.« Sanny lachte.
»Darf ich denn mitkommen?«
»Hast du Zeit, Vati?« Der kleine Dany sah seinen Vater prüfend an.
»Den ganzen Tag!«
»Dann musst du mitkommen. Nicht wahr?« Sanny sah ihre Betreuerin bittend an.
»Ich würde mich freuen.« Florence lächelte charmant.
»Darf ich Sie bei dieser Gelegenheit gleich zum Essen einladen? So eine Mahlzeit im Kreis der Kinder ist unglaublich genussreich.« Denise nickte dem Arzt aufmunternd zu. Natürlich war ihr nicht entgangen, mit welchem Interesse er die hübsche Florence gemustert hatte. Aber taten das nicht alle Männer? Es hatte sicher nichts zu sagen.
»Ich möchte Ihnen keine zusätzliche Arbeit machen.«
»Keine Sorge. Unsere gute Magda kocht so reichlich, dass wir jeden Tag Gäste haben könnten.«
»Dann nehme ich ihr freundliches Angebot gern an.« Dr. Amberg verbeugte sich leicht.
»Darf ich neben dir sitzen?«, fragte Sanny und beugte sich etwas vor.
»Nein ich!«, protestierte der kleine Junge und schlang seine Ärmchen noch fester um den Hals seines Vaters.
»Beide!«, entschied der Arzt schmunzelnd.
Denise von Schoenecker wünschte einen angenehmen Vormittag und ging dann ins Biedermeierzimmer.
Florence rief nach Christoph und Sabine, die ebenfalls von ihr betreut wurden, und dann marschierte die kleine Gruppe dem Ausgang zu. Während Christoph und Sabine draußen im Park voll Übermut vorausrannten, hielten sich Sanny und Dany ängstlich neben den Erwachsenen. Es war, als befürchteten sie, dass ihr Vati, den sie so schmerzlich vermisst hatten, zu rasch wieder abreisen könnte.
»Sie haben reizende Kinder«, meinte Florence ein bisschen ängstlich. Nur zu gut wusste sie, dass dieser Mann Sanny und Dany jederzeit aus dem Heim nehmen konnte. Und dann würde das kleine bescheidene Glück, das sie hier gefunden hatte, wieder vorbei sein. Dann würde ihr Leben wieder leer und trostlos sein. »Ich liebe sie«, bekannte sie spontan und drückte dabei die Patschhändchen ihrer kleinen Schützlinge.
»Das scheint mir ganz auf Gegenseitigkeit zu beruhen.« Helmut fühlte sich in der Nähe der charmanten Französin seltsam gehemmt. Lag das an diesem Schuldgefühl, das ihn beschlich? Er schämte sich ein bisschen, dass Florence ihm so gut gefiel. Hatte er sich nicht geschworen, Eva niemals zu vergessen? Wurde er diesem Vorsatz schon nach einem halben Jahr untreu?
»Ich versuche, ihnen ein bisschen die Mutti zu ersetzen«, antwortete die junge Frau leise. »Das fällt mir nicht schwer, weil ich selbst so ein kleines Mädchen wie Sanny hatte. Meine Claudine war etwas jünger, aber sie sah genauso aus, als sie …« Florence biss sich erschrocken auf die Lippen. Bisher hatte sie noch mit niemandem über jenes entsetzliche Unglück reden können, nicht einmal mit Dr. Solten. Seltsam, dass sie zu Hellmut Amberg sofort Vertrauen hatte.
Zu gern hätte der Mann nach den schlanken Fingern seiner Begleiterin