Wie man aus Trümmern ein Schloss baut. Dörte Maack

Wie man aus Trümmern ein Schloss baut - Dörte Maack


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Bauernsohn nicht akzeptabel. Mein Bruder zog mit sechzehn Jahren im Streit von zu Hause aus. Mein Vater wollte nicht noch ein Kind verlieren und ließ mich einfach in Ruhe.

      Auf einem Trip per Anhalter mit meinem Mitschüler Christian lernte ich in München Paul Brady kennen. Ich hatte zunächst keine Ahnung, dass der nette Typ ein bekannter irischer Singer-Songwriter war. Ein paar Tage später in Wien sprach uns ein Schauspieler an. Er fand uns junge Vagabunden niedlich, lud uns in ein teures Restaurant ein und schenkte uns zum Abschied hundert Mark. »Mit Geld ist das Leben viel lustiger«, meinte er. Es war Dietrich Siegl, der in der Lindenstraße den Tennislehrer Stefan Nossek spielte. Meine Mutter liebte »Lindenstraße« und hielt mich später stets über das Schicksal des Tennislehrers auf dem Laufenden. Irgendwann schoss Klausi Beimer ihn aus Versehen mit einem Luftgewehr blind und dann lief er auch noch vors Auto. Zum Glück war das nur ein Fernsehschicksal.

      Es gab so unendlich viel Spannendes außerhalb der Schule zu entdecken. Um in der Oberstufe weiterhin richtig gut zu sein, hätte ich in einigen Fächern stur büffeln müssen, aber das gefiel mir nicht. Ich war nur noch richtig gut in den Fächern, die mich wirklich interessierten. Ich beschäftigte mich voller Enthusiasmus mit dem Nationalsozialismus und mit Feminismus, hielt hierzu haufenweise Referate. Meinem Klassenlehrer aus der 5. Klasse, Herrn Thuma, begegnete ich in der Oberstufe als Geschichtslehrer wieder. Er hatte immer noch lange Haare und wir waren jetzt per Du. »Wie willst du mich eigentlich im mündlichen Abitur prüfen? Ich weiß doch jetzt mehr als du«, fragte ich ihn kurz vorm Abi. Das meinte ich ernst, denn wie konnte er so viel spezielles Wissen über »Frauen im Nationalsozialismus« haben wie ich?

      Am meisten liebte ich meinen Deutschleistungskurs und deren Lehrerin Frau Kotarowski. Ich bewunderte sie, denn sie war unglaublich gebildet und stilvoll. Dabei hatte sie auch noch einen feinen Sinn für Humor und war trotz allem sehr dezent. Am allermeisten mochte ich das Halbjahr, in dem es um »Politische Rede« ging. Wir analysierten berühmte Reden und sollten schließlich eine eigene Rede schreiben und vortragen. Auf der Suche nach einem passenden Thema hörte ich im Radio einen Beitrag über die Pläne einer amerikanischen Schule, Schüler zu regelmäßigen Cannabistests zu zwingen. »Würde so etwas an unserer Schule geschehen, würde ich als Schülersprecherin zum Boykott dieser Tests aufrufen!«, war ich sicher. Ich hatte mein Redethema! Ich schrieb mit Feuereifer an meiner Rede gegen Generalverdacht, Kriminalisierung und Überwachung. Das Ergebnis war brillant, fand ich. Mein flammendes Plädoyer beeindruckte Frau Kotarowski dann auch total. Leider ganz anders, als ich es erhofft hatte. Sie führte im Anschluss an den Unterricht mit mir ein sehr ernstes Gespräch unter vier Augen: »Dörte, hast du ein Problem mit Drogen? Brauchst du Hilfe?« Nein! Nein und darum ging es doch auch gar nicht! Ich wusste noch nicht, dass man nie sicher sein kann, wie die eigenen Gedanken bei anderen ankommen. Mir fehlte die Erkenntnis, dass es am besten ist, sich nicht von der Meinung anderer abhängig zu machen und den eigenen Weg zu gehen. So blieb mir nichts anderes übrig, als meine Begeisterung für die öffentliche Rede kleinlaut an den Nagel zu hängen.

      Ein sehr besonderer Kurs in meinem Abiturjahr war der Religionskurs bei Frau Höfmann. Ich hätte diesen Kurs, wie es fast alle anderen taten, einfach abwählen können, aber meine Lehrerin lockte mich mit dem Versprechen: »Wir werden uns mit feministischer Theologie auseinandersetzen.« Da konnte ich nicht ablehnen und saß ein weiteres halbes Jahr wöchentlich zwei Stunden nur mit Thomas, Stefanie und Frau Höfmann zur Besprechung theologischer Themen zusammen. Die Literatur zur feministischen Theologie verschlang ich gierig und natürlich würde ich dazu ein Referat halten. Zu meiner Überraschung wollte auch unser Schulleiter Herr Hallberg dieses Referat hören. Keine Ahnung, was den älteren Herrn am Feminismus interessierte. In meinem Referat ging es um die These der Forschung, dass die ersten Menschen glaubten, Kinder entstünden durch die Frau allein. »Dies glaubte man deshalb, weil zwischen der Zeugung und den ersten deutlichen Anzeichen einer Schwangerschaft so viel Zeit liegt, dass der Zusammenhang nicht offensichtlich ist«, erläuterte ich diese These. An dieser Stelle hatte mein Schulleiter eine Zwischenfrage, die mich bis heute irritiert: »Also, der … ähm … Beischlaf wurde aber trotzdem vollzogen?«

      Ich antwortete sachlich: »Ja, davon ist auszugehen.«

      »Pinneberg ist einfach nur total hinterm Mond. Nichts wie weg von hier!«, dachte ich immer häufiger.

      Trunkene Tage

      »Berufswunsch: Journalistin, Poetin, Weltreisende, Barbesitzerin, Unternehmerin und ich will Zirkus machen«, war neben meinem Namen in der Abi-Zeitung zu lesen. Diese Liste hatte ich spontan erstellt und wäre mehr Platz gewesen, hätte sie noch viel länger sein können. »Wer kommt wohl als Erstes ins Gefängnis?«, war eine der Abstimmungsfragen für dieses Blatt. Als Mitglied der Redaktion zählte ich die Stimmen der Befragung aus und staunte. Die Namen, die bei dieser Frage am häufigsten genannt wurden, waren: Laurenz, Sundeep und Dörte. Laurenz und Sundeep machten irgendwas mit Drogen, aber warum sollte ich auf einer Anklagebank sitzen? Ich hatte nur eine Rede über einen fiktiven Drogentest gehalten und einmal im Übermut eine Farbspraydose im öffentlichen Raum benutzt. »Ich bin viel zu harmlos, um in den Knast zu kommen«, war ich sicher. Ich konnte nicht ahnen, dass ich viel später tatsächlich in eine Justizvollzugsanstalt kommen würde, und das auch noch begleitet von einem Fernsehteam.

      »Solange ich mich nicht entscheiden kann, was ich werden will, ist es am besten, Studentin zu sein«, dachte ich und schrieb mich erst einmal für Germanistik und Anglistik ein. Die Uni war eine totale Enttäuschung: viel zu verkopft und trocken. Trotzdem ging ich fleißig in die großen anonymen Vorlesungen und Seminare, bestand Klausuren, schrieb Hausarbeiten und sammelte ordentlich Scheine. Wozu das gut sein könnte, würde sich gewiss irgendwann zeigen.

      Neben der Unterstützung durch meine Eltern verdiente ich meinen Lebensunterhalt als Kellnerin. »Aushilfe gesucht«, hatte ich schon in der 11. Klasse auf einem Aushang im Fenster einer Eisdiele am Altonaer Spritzenplatz gesehen. Ich hatte sofort im Laden nachgefragt und Rolf Tamm, der Inhaber, hatte mich gleich dabehalten. Meine Karriere hatte ich beim Abwasch begonnen. In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren hatte ich mich über Fenster links (Außer-Haus-Verkauf nur bei gutem Wetter), Fenster rechts (Außer-Haus-Verkauf an allen Tagen), Kellnerin 2, Kellnerin 1 bis zur »Leitenden Buffetkraft« hochgearbeitet. Nun war ich in diesem Eiscafé während meiner Schichten für alles, von der Bestellung über die Personaleinteilung bis hin zur Abrechnung, verantwortlich. Rolf war sehr selten da und wir als sein Team brachten den Laden zum Brummen. Wir waren jung, unbeschwert und entscheidungsfreudig. »Sie finden den Kuchen zu trocken? Kein Problem, ich bringe Ihnen einen anderen«, »Sie finden, dass die Eiskugeln zu klein sind? Kein Problem, ich mache sie größer«, »Sie haben nicht genug Geld? Kein Problem, ich mache es günstiger.« Wir pfiffen auf die betriebswirtschaftlichen Vorstellungen unseres Chefs, der darauf beharrte, dass eine Kugel Eis das Gewicht von vierzig Gramm unter keinen Umständen überschreiten dürfe. Wir machten alle Kunden glücklich. Das sprach sich rum und der Eisladen wurde Kult. Na ja, so viel Kult, wie ein Eiscafé Venezia mit Spaghetti-Eis und Krokantbecher eben sein kann. Ich liebte diesen Job sogar dann, wenn ich an langen, heißen Sommertagen nach Mitternacht völlig verschwitzt und verklebt noch die Stühle anketten und die Sahnemaschine reinigen musste. »Mir kann gar nichts passieren«, dachte ich mir. »Ganz egal, ob ich auf die Nase falle, ich kann mich immer gut mit Kellnern über Wasser halten.«

      Ich zog nach dem Abitur in eine große WG mit taxifahrenden Musikern und anderen kreativ-chaotischen Typen in die Eulenstraße. Andreas, einer meiner Mitbewohner, zeigte mir, wie man mit drei Bällen jongliert. Das faszinierte mich vom ersten Augenblick an und ließ mich lange nicht los. Am Sportfachbereich der Hamburger Uni gab es Kurse für Jonglieren und Akrobatik. Das war in den 80er-Jahren ganz neu und genau richtig für mich. In der Akrobatikgruppe wurden wir schnell zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Schon bald buchten uns Stadtteilfeste für Auftritte. Den Applaus für unser amateurhaftes Können nahmen wir als Ansporn. Wir trainierten, so oft es ging, fuhren für Workshops nach Holland, wo die Partnerakrobatik der Como Brothers schon weit verbreitet war. Bei den Jongliertreffen gab es einige, die als Jongleure schon sehr erfolgreiche Straßenkünstler waren und für bezahlte Auftritte gebucht wurden. Weil die neuen Zirkuskünste noch eine Nische waren, konnten auch blutige Anfänger wie ich schnell Teil der bunten Familie werden. Ich


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