Wie man aus Trümmern ein Schloss baut. Dörte Maack

Wie man aus Trümmern ein Schloss baut - Dörte Maack


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fest. Dann lässt man ganz plötzlich los, lässt sich nach hinten ins Nichts fallen und hält sich im letzten Moment noch mit einer Hand und einem Fußgelenk fest. Das klingt spektakulär und das ist es auch. Beim statischen Trapez ist man nicht gesichert, arbeitet ohne Netz. In der Schule lagen unter uns zwar immer dicke blaue Turnmatten, aber wie würde das später sein?

      Wir fragten Helen, unsere Trapezlehrerin: »Was ist, wenn wir fallen?«

      Sie holte tief Luft und sagte dann betont langsam: »Well, we do not fall.«

      Sie meinte, wir müssen absolut sicher arbeiten, denn sonst würde es nur eine Menge Schmutz und Ärger machen. Okay, wir hatten verstanden: Für uns ist Fallen keine Option. Wir fallen nicht.

      Kurz vor Abschluss der Ausbildung wurden wir als Hofnarrentruppe zu einer großen Charity-Party des britischen Hochadels eingeladen. Einige Gäste flogen mit Heißluftballons über das riesige Anwesen. Einigen von uns gelang es mitzufliegen. Wir anderen genossen am Boden Narrenfreiheit, ließen uns wie Tiere im Streichelzoo von den Lords und Ladies füttern und verwickelten uns mit den Earls im Weidezaun. Hier war noch Mittelalter.

      Die Ausbildung ging schließlich zu Ende und wir probten viele Wochen pausenlos für unsere aufwendige Abschlussshow. In einem großen Zirkuszelt in Bristols Innenstadt zeigten wir, was wir gelernt hatten. Das Publikum feierte mit uns die wilde, bunte Show mit Comedy, Storytelling, Clownerie, Tanz, Gesang, Akrobatik, Jonglage, Seiltanz, Zauberei und natürlich mit viel Luftakrobatik hoch oben unter der Zirkuskuppel. Die Schule in Bristol heißt heute nicht mehr »Fooltime« sondern »Circomedia«. Sie befindet sich nach wie vor in der mittlerweile sanierten alten Kirche in St. Pauls. Wäre ich noch einmal ganz jung, ich würde sofort wieder hingehen.

      Niemand hatte mich davon abgehalten, an diese verrückte Schule zu gehen, niemand hat gesagt: »Lern besser was Ordentliches.« Zum Glück, denn diese Ausbildung war nicht nur die intensivste und für mich herausforderndste von all den vielen Aus- und Weiterbildungen, die ich in meinem Leben absolviert habe, sondern diejenige, von der ich über Jahrzehnte hinweg am meisten profitiert habe. Das wusste ich aber erst viele Jahre später. Zunächst war ich ein bisschen ratlos, was ich mit meinen Fähigkeiten in Hamburg anfangen könnte.

      Eine Stellenausschreibung des »Scharlatan Theaters« fiel mir in die Hände und schien genau mich zu meinen. Die Theatertruppe war gerade auf dem Weg, ein bekanntes Unternehmenstheater zu werden und besonders erfolgreich mit ihren Auftritten als »Comedy-Kellner«. Genau hierfür suchten die Herren weibliche Verstärkung. Kellnern und Comedy in Kombination, das schien doch wie gemacht für mich. »Schmeiß dich in Schale und schau dir an, was wir morgen auf dem Galadinner an der Ostsee machen«, sagte einer der Schauspieler am Telefon zu mir. Ich machte mich richtig schick und gemeinsam mit Daniel, der als Freund eines der Schauspieler auch zuschauen wollte, fuhr ich mit den Jungs zu dem Luxushotel. Daniel und ich mussten so tun, als wären wir ein junges Paar und Teil der Dinnergesellschaft. Die Jungs würden erst ganz normale Ober sein, bevor sie langsam immer offensichtlicher als Comedy-Kellner auftreten würden. Wir konnten also nicht einfach nur zuschauen, aber kein Problem: In Rollen schlüpfen konnte ich gut. Was Daniel und ich nicht wussten, war, dass alle Gäste Golfspieler waren. Der Smalltalk an unserem Tisch holperte sehr und Daniel hatte es bald völlig die Sprache verschlagen. Ich gab mir alle Mühe, nicht aufzufallen. Eine Dame aus Bremerhaven meinte: »Gestern hatte ich einen besonders angenehmen Flight. Das ist ja nicht immer so.« Ich staunte, dass sie von Bremerhaven an die Ostsee per Flugzeug anreiste. Als mein Sitznachbar zu seiner Gattin sagte: »Schatz, morgen ziehen wir uns mal Jeans an und mischen uns unters Volk«, und ich noch nach einem passenden Kommentar suchte, schob mir einer der echten Kellner einen kleinen zusammengefalteten Zettel zu. »Ich erwarte dich an der Hotelbar« stand darauf. Ich wunderte mich, vermutete, dass mich einer der Schauspieler unter vier Augen sprechen wollte, aber warum? An der Bar erwartete mich der feiste Hoteldirektor mit zwei Gläsern Champagner. Er flüsterte: »Lass uns darauf anstoßen, dass die Jungs bald eine so zauberhafte junge Kollegin haben werden. Du wirst eine zuckersüße Kellnerin werden.« »Fick dich!«, dachte ich angewidert, sagte es aber nicht. Ich trank artig mein Glas aus, bedankte mich höflich und stöckelte zurück zu meinem Galadinner. Mir war klar, dass ich niemals die süße Kellnerin für angetrunkene Herren mittleren Alters spielen werde. Mittlerweile hatten die Schauspieler-Kellner mit ihrem Programm begonnen und es wurde überall viel gelacht. Nur unser Tisch bat darum, nicht von diesem »Bauerntheater« behelligt zu werden. Daniel und mich beäugten sie nun auch zunehmend misstrauisch.

      Die Dame neben Daniel stellte dann die Gretchenfrage: »Sagen Sie mal, wie hoch ist denn Ihr Handicap?«

      Mist, was sollten wir sagen? Wie hoch kann so ein Handicap sein? 3, 7, 3700 oder was? »Oh weh, das magst du gar nicht sagen«, stieß ich Daniel an und kicherte verlegen.

      »Ist ihr Handicap etwa nur 54?«, sagte sie lachend.

      Daniel war so froh, dass es eine handfeste Zahl gab und bejahte. Dann wurde ich gefragt. »Nein, mein Handicap ist bereits 75«, meinte ich souverän.

      Alle guckten ziemlich dumm und keiner lächelte. Ich verstand das nicht. Sie begannen über Paare zu lästern, die keine Ahnung von Golf haben, plötzlich zu Geld gekommen sind und sich in Golfclubs einkaufen. »So etwas müsste verboten werden!«, waren sie sich einig. Dass sie uns damit meinten, wurde mir erst sehr spät klar. Jahre danach erfuhr ich von einem Golfer, dass 54 das schlechteste Handicap ist und es dann gen null geht. 75 kann man nicht haben …

      Dabei hatte ich eigentlich vollkommen recht. Mein Handicap war viel höher, als man annehmen würde, und es würde nicht besser werden, nur das wusste ich damals genauso wenig wie die bornierte Golfgesellschaft.

      Hornbrillen und andere Irrtümer

      Sehen andere eigentlich genauso wie man selbst? Kann man da überhaupt je sicher sein? Als Kind stellte ich mir diese Fragen nicht. Ob ich vielleicht schon immer anders, genauer gesagt weniger sah als andere, kann ich deshalb nicht sagen. Ich sah und Zweifel daran gab es nicht.

      Den Sehtest bei der Untersuchung zur Feststellung der Schulreife bestand ich ohne Beanstandungen. In der zweiten Klasse stellte der Augenarzt unserer Familie Dr. Gröger dann bei mir eine Hornhautverkrümmung fest und verordnete mir eine Brille. Damit wurde ich das einzige Mädchen mit Brille in meiner Klasse. Das war nicht schön und meine Mutter weinte deswegen sogar ein bisschen. Natürlich ist es gar nicht schlimm, eine Brille zu brauchen, und auch kein Grund für ernsthafte Trauer. Schlimm war allerdings, dass ich mich mangels geeigneter Vorbilder für eine Hornbrille entschied. Die einzige Person mit Brille, die ich gut kannte und mochte, war meine Großmutter. Meine ersten beiden Brillengestelle waren daher scheußliche Kassenmodelle aus den 60er-Jahren. Sie kamen in ihrer braunbeige melierten Farbgestaltung und ihrer Form der Brille meiner Großmutter sehr nah, nur dass sie in meinem Kindergesicht absolut wie von vorgestern wirkten. »Oh, hast du jetzt eine Brille?«, fragten mich Nachbarn und Mitschüler und sagten dann nichts mehr. Die Reaktionen waren auffallend verhalten. »Brillen sind etwas für Omas und einfach nicht schick. Da kann man nichts machen«, dachte ich. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass es an meinem speziellen Modell liegen könnte. Ich akzeptierte, dass ich mit der Brille zwar schärfer sehen konnte, dafür aber doof aussah. Egal, denn Aussehen spielte für achtjährige Mädchen in der Prisdorfer Grundschule ohnehin eine Nebenrolle. Ich trug die Brille, ohne zu murren, nur für die Klassenfotos setzte ich sie vorsichtshalber ab.

      Als Aussehen mit der Pubertät ein zunehmend wichtigeres Thema wurde, war ich längst überzeugt, dass jede Brille unabhängig von ihrer Form und Farbe nicht anders kann, als mich hässlich zu machen. Hässlich sein aber galt es in der Pubertät natürlich um fast jeden Preis zu vermeiden. Ich trug die Brille nur noch im Unterricht und später auch dort nicht mehr. Aussehen hatte jetzt eine deutlich höhere Priorität für mich als sehen.

      »Ich komme gut ohne Brille klar«, redete ich mir ein. Sicher war das nur die halbe Wahrheit, denn sonst hätte ich wohl gar keine Brille verordnet bekommen. Ganz nebenbei und meist unbewusst eignete ich mir Techniken an, um mit dem unperfekten Sehen klarzukommen. Ich fand heraus, dass man Tafelanschriebe in den meisten Fächern nicht sehen musste, um gute Noten zu bekommen. Es reichte, den Lehrern zuzuhören.

      In


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