Die Bonanzarad-Bibel. Jörg Maltzan
Name nach dem Seevogel förmlich auf.
Nicht nur die High-Riser selbst verkaufen sich rasend schnell, sondern auch Zubehör aller Art. Das Aufrüsten mit Spiegeln, Spritzlappen und Tachos gehört bei jugendlichen Fahrern einfach dazu.
Ein »Einfach-mal-machen-Fahrrad«
Auf den Auslieferungszeitpunkt bezogen, ist somit eindeutig belegbar, dass mit dem Huffy Penguin der erste Serien-High-Riser geboren war. »Wir arbeiteten nach dem Kiss-Prinzip«, erinnert sich Mole viele Jahre später. Das steht für »Keep it simple, stupid«, was etwa bedeutet: »Halt es einfach, Dummkopf«, die typische coole Art, mit der in den USA gern Abläufe und Prozesse beschrieben werden. So gesehen ist das Penguin ein lässiges »Einfach-mal-machen-Fahrrad« und kein ausgefeiltes Produkt strategischer Überlegungen.
Doch trotz aller Lockerheit ist das Verhältnis zwischen Auftraggeber Mole und Hersteller Huffmann nicht einfach und kühlt noch weiter ab. Besonders als Ende 1963 Huffmann eigene High-Riser-Varianten als Monark Avanti und Huffy Brodie für etwas mehr als 40 Dollar über Discountstores auf den Markt bringt. Die ursprüngliche Skepsis an Moles Plan weicht offenbar schnell der Angst, hier einen wichtigen Trend zu verpassen. Ist das legitime Konkurrenz oder dreister Ideenklau? Fakt ist: Mole hat im guten Glauben auf einen Exklusivvertrag mit Huffmann und damit auf einen Kopierschutz verzichtet. Als das Penguin den Fahrradhändlern aus den Händen gerissen wird und insbesondere Discounter nach dem Bike betteln, nutzt Huffmann die Vertragslücke und produziert kurzerhand seine eigenen High-Riser in nahezu identischer Ausführung. Mole ändert daraufhin frustriert den Namen des Huffy Penguin in Dayton Deluxe Penguin.
Das erste Stingray kommt in der Basisausführung ohne Schutzbleche auf den Markt und kostet 49,95 Dollar.
Angesichts dieser Verwerfungen ist dem Penguin, dem ersten Großserien-Bonanzarad made in USA, kein lang anhaltender Erfolg vergönnt. Ganz anders als dem Schwinn Stingray, das zwar erst als Nummer zwei auf den Markt kommt, aber deutlich erfolgreicher und länger verkauft wird. Wohl aus diesem Grund wird das Stingray in der Literatur oft fälschlicherweise als das erste High-Riser-Produktionsmodell tituliert. Und Al Fritz als sein Erfinder.
The winner takes it all
Sogar die seriöse New York Times nennt ihn den Vater des High-Risers: Albert John Fritz aus Chicago, Illinois. In vielen Quellen ist es so fälschlicherweise zu finden. Pete Moles Penguin schafft es definitiv ein paar Monate vorher auf den Markt. Doch Fritz ist es, der dem neuen Radtypus zum massiven Erfolg verhilft. Denn Fritz hat die große Fahrradmarke Schwinn im Rücken. Schwinn hat eigene Fabriken. Schwinn hat eigene Händler. Und Schwinn hat deutlich mehr Marktmacht als die schwierige Kooperation zwischen Mole und der zögerlichen Huffmann Company aus Ohio. Schwinn wurde schon 1895 von den beiden deutschen Einwanderern Ignaz Schwinn und Adolph Frederick William Arnold gegründet.
Es ist ein kalter Wochenendtag im Januar 1963, als bei Al Fritz in Chicago das Telefon klingelt: »Hey, Al. Du glaubst nicht, was hier abgeht! Die Kids bauen ihre Räder um wie verrückt: Bananensättel statt Seriensitzen, hohe Schmetterlingslenker statt flacher Stangen. Die Dinger sehen sportlich und cool aus«, berichtet Sigurd Mork am anderen Ende der Leitung. Mork ist Schwinns Verkaufsmanager im sonnigen Kalifornien. Fritz hört aufmerksam zu, was sein Freund gut 2.000 Meilen weiter westlich beobachtet hat. Denn als persönlicher Assistent von Firmenchef Frank W. Schwinn und Entwicklungsleiter hat er immer ein offenes Ohr für Trends und Moden.
Typhoon wird zum Stingray-Prototyp
Bananensättel kennt Fritz. Hersteller Persons hat sie schon seit 1959 im Programm und stattet damit Fahrräder für den Bike-Polosport aus. Fritz lässt sich einige Testmuster schicken. Firmenchef Robert Persons hatte Schwinn vorgeschlagen, die Langsättel an Tandemmodellen zu verbauen. Hochlenker bzw. Texas-Bullhornlenker oder auch Schmetterlingslenker, wie Mork sie nennt, sind Fritz dagegen neu. Um eine genauere Vorstellung von dem ungewöhnlichem Fahrradhype zu bekommen, ordert Fritz mehrere Lenker von der Westküste. Außerdem kontaktiert er Zulieferer wie Wald Manufacturing und Pearsons, um sich ein noch genaueres Bild von der Marktsituation zu machen.
Dann geht alles Schlag auf Schlag: Fritz entscheidet, einen Schwinn-Prototyp des kalifornischen Sportfahrrads aufzulegen. Obwohl seine Chefetage sich skeptisch zeigt, entwickelt Fritz zusammen mit Chefingenieur Frank Brilando aus dem 20-Zoll-Typhoon-Kinderrad eine erste Version. Anfang April ist sie fertig. Zu einem Zeitpunkt also, als Pete Mole mit seinem Huffy Penguin bereits Monate in den Fahrrad-Schaufenstern mit einem Serienmodell vertreten ist.
Nur wenige Tage darauf stirbt Firmenchef Frank Schwinn an den Folgen einer Krebserkrankung. Zu seiner Beerdigung erscheinen Industriepersönlichkeiten aus den gesamten USA. Es mag pietätlos klingen, aber das Geschäft muss trotz des Trauerfalls weitergehen. Auch ohne Frank, den Boss. Also bittet Al Fritz drei der wichtigsten Fahrrad-Vertriebschefs, in die Schwinn-Fabrik an der North Kostner Avenue zu kommen. Dort präsentiert er ihnen seine Neuentwicklung. Erste Reaktion: Schweigen. Die Männer drehen die Köpfe, schauen sich in die Augen. Dann folgt Gelächter. Soll das ein Witz sein? Ein komisches Kinderrad als profitables Massenprodukt? »Al, diese Bastelei verkauft sich nicht«, kritisieren sie Fritz. Doch der lässt nicht locker: »Nicht faseln, fahren«, fordert Fritz. Als Teststrecke dient die Lackiererei. Zögerlich setzt sich ein Anzugträger nach dem anderen auf Fritz‘ High-Riser. Wie kleine Kinder kurven die Manager um die Stützpfeiler. Immer schneller, immer wilder. Und wieder lachen sie. Doch dieses Mal nicht aus Hohn, sondern aus Begeisterung. Das Rad macht an. Aus Spott wird Spaß. Viel Spaß!
Aus Hohn wird Begeisterung
Nur die neuen Bosse ganz oben bleiben skeptisch. Nach dem Tod des Chefs übernehmen die beiden Schwinn-Söhne die Firmenleitung. Sie sehen wenig bis keine Chancen für das neue Fritz-Projekt, geben aber trotzdem grünes Licht. Dem Unternehmen geht es gut, es ist gesund und stark genug, eine Fehlentwicklung im Segment der Kinderräder zu verkraften. Also macht sich Fritz auf die Suche nach einem treffenden Namen. Angeblich sollen ihn die hohen Lenkerenden an einen Stachelrochen (Sting-ray) erinnert haben. Wahrscheinlicher steckt hier - anders als beim Penguin - eine kühle Marketingüberlegung dahinter. Die enge Anlehnung der Fritz-Erfindung an getunte Motorräder schreit eigentlich nach einer Namensgebung aus der Chopper-Szene. Das Problem daran: Die gepimpten Motorräder sind verstärkt in Banden und Gangs beliebt, die häufig mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder sich illegal im Land aufhalten. Mit diesen negativen Assoziationen will Schwinn nichts zu tun haben.
Viel braver, aber dennoch faszinierend erscheint den Verantwortlichen wohl eher ein Name aus der Autowelt. Hier kommt für Schwinns High-Riser der Sportwagen von General Motors (GM) ins Spiel. Der heißt seit 1953 Corvette und trägt seit Herbst 1962 den Zusatz Sting Ray. Ein passender Name auch für das neue Fahrrad, befindet Schwinn. Wenig später werden Schwinns Stingray und GMs Corvette Sting Ray gemeinsam auf Werbemotiven abgedruckt. Außerdem erhält das Rad den Claim: »The bike with the sports car st. Die Kampagne nimmt Fahrt auf; ein Erfolg scheint programmiert. Nur der neue Firmenboss Frank V. Schwinn bleibt noch zurückhaltend. Fritz bietet seinem zaudernden Chef eine Wette an: »Frank, wir werden bis zum Jahresende 25.000 Stück davon verkaufen.«
Spätestens Mitte der 60er-Jahre setzt in den USA ein wahrer High-Riser-Hype ein. Ob Fachhandel, Kaufhäuser wie Sears oder Versandunternehmen – sie alle bringen die neuen Jugendfahrräder unter fantasievollen Namen ins Programm.
Im Mai 1963 laufen die ersten J-38, so der interne Werkscode, in Chicago vom