Die ersten Menschen im Mond. Herbert George Wells
Ich verstummte. Plötzlich war es mir klar und lebhaft aufgegangen, daß ich ein Narr war, in dieser Sphäre zu sein. Selbst jetzt noch, fragte ich mich, ist es zu spät, sich zurückzuziehen? Die Welt außerhalb der Sphäre, das wußte ich, würde kalt und ungastlich genug gegen mich sein – seit Wochen hatte ich von Cavors Subsidien gelebt – aber schließlich, würde sie so kalt sein wie der unendliche Nullpunkt, so ungastlich wie der leere Raum? Wäre es nicht um den Anschein der Feigheit gewesen, ich glaube, ich hätte ihn selbst da noch gezwungen, mich hinauszulassen. Aber aus dem Grunde zögerte ich und zögerte ich und wurde ungeduldig und zornig, und die Zeit verging.
Da kam ein leiser Ruck, ein Geräusch, wie wenn im Nebenzimmer Champagner entkorkt würde, und ein schwacher pfeifender Schall. Eine Sekunde lang hatte ich eine Empfindung ungeheurer Spannung, eine flüchtige Überzeugung, daß meine Füße mit der Kraft zahlloser Tons nach unten preßten. Es dauerte eine unendlich kleine Zeit.
Aber es rüttelte mich zum Handeln auf. »Cavor!« sagte ich ins Dunkel hinein; »meine Nerven sind kaputt ... Ich glaube nicht – –«
Ich hielt inne. Er gab keine Antwort.
»Zum Henker!« rief ich, »bin ich ein Narr! Was habe ich hier zu suchen? Ich komme nicht mit, Cavor. Die Sache ist zu riskant. Ich steige hinaus.«
»Das können Sie nicht,« sagte er.
»Kann nicht! Das wollen wir bald sehen!«
Er gab zehn Sekunden lang keine Antwort. »Es ist jetzt zu spät, uns zu streiten,« sagte er. »Der kleine Ruck vorhin war der Aufstieg. Wir fliegen schon so schnell wie eine Kugel in den Abgrund des Raumes hinauf.«
»Ich« – sagte ich, und dann schien es mir nicht mehr darauf anzukommen, was geschah. Eine Zeitlang war ich gleichsam betäubt; ich hatte nichts zu sagen. Es war gerade, als hätte ich noch nie zuvor von dieser Idee, die Welt zu verlassen, gehört. Dann merkte ich eine unerklärliche Veränderung in meinen körperlichen Empfindungen. Es war ein Gefühl der Leichtigkeit, der Unwirklichkeit. Damit ging eine sonderbare Empfindung im Kopf Hand in Hand, beinahe etwas Apoplektisches, und ein Pochen der Blutgefäße in den Ohren. Keines dieser Gefühle wurde mit der Zeit geringer, aber schließlich war ich so daran gewöhnt, daß sie mir nicht mehr unangenehm waren.
Ich hörte ein Klinken und eine kleine Glühlampe leuchtete auf.
Ich sah Cavors Gesicht, so weiß, wie ich fühlte, daß meins war. Wir blickten einander schweigend an. Die durchsichtige Schwärze des Glases hinter ihm bewirkte, daß er aussah, als schwimme er in einer Leere.
»Nun, wir sind gefangen,« sagte ich schließlich.
»Ja,« sagte er, »wir sind gefangen.«
»Bewegen Sie sich nicht,« rief er bei der Andeutung einer Geste aus. »Lassen Sie Ihre Muskeln ganz schlaff – wie wenn Sie im Bett lägen. Wir sind in einem kleinen eigenen Universum. Sehen Sie die Dinge da an!«
Er zeigte auf die Kisten und Bündel, die am Boden der Sphäre auf den Decken gelegen hatten. Ich war erstaunt, sie fast einen Fuß weit von der sphärischen Mauer entfernt schwimmen zu sehen. Dann sah ich an seinem Schatten, daß Cavor nicht mehr am Glase lehnte. Ich streckte die Hand hinter mich und fand, daß auch ich, klar vom Glas, im Raume schwebte.
Ich schrie nicht auf und gestikulierte nicht, aber die Angst überschlich mich. Es war, als würde man von etwas gehalten und gehoben – man wußte nicht, wovon. Die bloße Berührung meiner Hand mit dem Glase brachte mich in rasche Bewegung. Ich begriff, was geschehen war, aber das hinderte nicht, daß ich mich fürchtete. Wir waren von aller äußeren Gravitation abgeschnitten, nur die Anziehung der Dinge innerhalb unserer Sphäre wirkte. Infolgedessen fiel alles, was nicht am Glase befestigt war – langsam, wegen der Geringfügigkeit unserer Massen – zum Gravitationszentrum unserer kleinen Welt, das etwa im Mittelpunkt der Sphäre, aber wegen meines höheren Gewichtes mir näher als Cavor zu liegen schien.
»Wir müssen uns drehen,« sagte Cavor, »und Rücken gegen Rücken schwimmen, mit den Sachen zwischen uns.«
Es war die sonderbarste Empfindung, die man sich vorstellen kann, so lose im Raum zu schweben, anfangs sogar grauenhaft unheimlich, als aber das Grauen verging, durchaus nicht unangenehm, außerordentlich ausruhend; ja, was ihr an irdischer Erfahrung von allem, was ich kenne, am nächsten kam, war, wenn man auf einem sehr dicken, weichen Federbett liegt. Aber das Eigentümliche der äußersten Loslösung und Unabhängigkeit! Auf solche Dinge hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte beim Aufstieg einen heftigen Stoß erwartet, ein schwindliges Gefühl der Geschwindigkeit. Statt dessen hatte ich ein Gefühl – als wäre ich körperlos geworden. Es war nicht wie der Beginn einer Reise; es war wie der Beginn eines Traums.
5 Die Fahrt zum Mond
Dann löschte Cavor das Licht aus. Er sagte, wir hätten nicht übermäßig viel Energie aufgespeichert, und wir müßten fürs Lesen sparen. Eine Zeitlang, ob es lange oder kurz dauerte, weiß ich nicht, war nichts als leere Schwärze zu sehen.
Eine Frage schwamm aus der Leere herauf. »Wie zeigen wir?« fragte ich. »Welches ist unsere Richtung?«
»Wir fliegen geradewegs von der Erde fort, und da der Mond seinem dritten Viertel nahe ist, gehen wir irgendwo auf ihn zu. Ich will eine Jalousie öffnen –«
Es folgte ein Klinken, und dann sprang ein Fenster in der äußeren Hülle auf. Der Himmel draußen war ebenso schwarz wie die Dunkelheit in der Sphäre, aber die Form des offenen Fensters wurde durch eine unendliche Zahl von Sternen markiert.
Wer den Sternenhimmel nur von der Erde aus gesehen hat, kann sich seine Erscheinung, wenn der unbestimmte halb helle Schleier unserer Luft entfernt ist, gar nicht vorstellen. Die Sterne, die wir auf der Erde sehen, sind nur die zerstreuten Überlebenden, die unsere neblige Atmosphäre durchdringen. Jetzt endlich konnte ich den Sinn der himmlischen Heerscharen erfassen!
Dieser luftleere, sternenbestaubte Himmel! Von allen Dingen, glaube ich, wird das eins der letzten sein, die ich vergessen werde!
Das kleine Fenster verschwand mit einem Klinken, ein anderes daneben schnappte auf und schloß sich sofort wieder, und dann ein drittes, und einen Moment mußte ich wegen des blendenden Glanzes des abnehmenden Mondes die Augen schließen.
Eine Zeitlang mußte ich Cavor und die weiß beleuchteten Dinge um mich anblicken, um meine Augen wieder ans Licht zu gewöhnen, ehe ich sie auf jenen bleichen Glanz werfen konnte.
Vier Fenster waren offen, damit die Gravitation des Mondes auf alle Stoffe in unserer Sphäre wirken konnte. Ich sah, daß ich nicht länger frei im Raume schwebte, sondern daß meine Füße in der Richtung nach dem Monde zu auf dem Glase ruhten. Die Decken und Vorratskisten krochen gleichfalls langsam am Glas hinunter und kamen dann so zur Ruhe, daß sie uns einen Teil des Ausblicks versperrten. Mir war natürlich, ich blickte »hinunter«, wenn ich auf den Mond blickte. Auf der Erde heißt »hinunter« erdwärts, wie die Dinge fallen, und »hinauf« heißt die umgekehrte Richtung. Jetzt ging der Zug der Gravitation auf den Mond zu, und nach allem, was ich wußte, war unsere Erde über uns. Und natürlich war, wenn alle Jalousien geschlossen waren, »hinunter« auf das Zentrum unserer Sphäre zu, und »hinauf« nach ihrer äußeren Umwandung gerichtet.
Es lief auch sonderbar irdischer Erfahrung entgegen, daß das Licht zu einem » herauf« schien. Auf der Erde kommt das Licht von oben oder seitlich schräg herunter, aber hier kam es von unter unseren Füßen her, und um unseren Schatten zu sehen, mußten wir nach oben blicken.
Zuerst verursachte es mir eine Art Schwindel, daß ich nur auf dickem Glase stand und durch Hunderttausende von Meilen leeren Raums auf den Mond hinabblickte; aber die Übelkeit verging sehr rasch. Und dann – der Glanz des Anblicks!
Der Leser kann es sich am besten vorstellen, wenn er sich an einem warmen Sommerabend auf den Boden legt und zwischen den Füßen zum Mond emporblickt, aber aus irgendeinem Grunde, wahrscheinlich, weil das Fehlen der Luft ihn soviel leuchtkräftiger machte, schien der Mond schon beträchtlich größer als von der Erde aus. Die kleinsten Einzelheiten seiner Oberfläche