Die Zeit ohne uns. Rupert van Gerven
hast viel erreicht, sag nicht ›wir‹. Ich habe nur wenig Anteil, eben so viel, wie ein Angestellter imstande ist zu leisten. Was ist das schon?« Tränen liegen auf der Zunge.
Herbert hebt sich aus seinem Schreibtischstuhl, will den Mann, den er seit so vielen Jahren kennt und liebt, umarmen, will abwinken, schlichten, wie so oft schon. Seine Hände wollen Bauch streicheln, Oberarm umfassen, wollen Kopf auf seine Schulter legen.
»Nicht! Fass mich nicht an ... du machst es dir zu einfach!«
»Aaron! Was kann ich schon tun? Wir haben uns zu beugen, wir dürfen nicht so sein, wie wir sind.«
Schweigen ist laut, übertönt den Regen. Unfähigkeit umschließt zwei Menschen, lässt sie allein in ihren Gedanken, macht sie einsam. Herbert nimmt Aarons Hand, zieht ihn hinter sich her. Sie schleppen sich die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf.
Aaron ziert sich. Ein alter, sich immer wiederholender Film spielt sich vor ihm ab. Klebstoff, der die beiden noch zusammenhält: Sex. Problemlöser für alle Fälle.
Aaron sieht den ein wenig kräftigeren Herbert aus lang vergangener Zeit vor sich, er vergleicht ihn mit dem heute über 50-Jährigen, schwenkt zu dem jungen Kerl zurück. Sein Kopf sorgt für Begehren.
Herbert öffnet die Schlafzimmertür, schiebt seinen Liebsten in den Raum. Haben sie nur noch Sex, um zu vertuschen, nicht reden zu müssen, sodass alles bleibt, wie es ist? Er kickt die Tür ins Schloss, zieht die Vorhänge zu. Aaron ist immer noch ein attraktiver Mann.
Er nimmt die weiche Decke zurück und legt sich auf das Bett, öffnet sein leinengestärktes Oberhemd. Reißverschlüsse werden geöffnet, an Unterhosen genestelt. Dunkelheit behält Gedanken für sich, übergeht Oberflächlichkeit, braucht keine Lügen zu heucheln. Hände graben sich in Körper, auf der Suche nach Erotik. Kein Radio spielt, kein Aftershave, das verwirrt. Zwei alternde Männer bemühen sich. Ihr Tun gleicht immer mehr einem Ringkampf. Machtkämpfe hinter Scheiben, die mehr als nur den Regen aushalten müssen.
Der frühe Abend wird zur verzweifelten Nacht.
Vor dreißig Jahren, im Berlin der Zwanzigerjahre, war ihre Liebe noch selbstverständlich.
Der Beginn einer Liebe im KaWeDe – Frühling 1927
»Aaron, die neue Kollektion muss ins Schaufenster gestellt werden. Geh ins Lager, Frau Hebel weiß Bescheid und hat die entsprechenden Kleider rausgesucht.«
»Gut, Chef.« Aaron läuft gut gelaunt durchs KaDeWe, vorbei an Vitrinen aus Nussbaum, gold umrandeten Spiegeln und großen Kugellampen. Vorbei an Wänden mit goldenen Tapeten und zartgliedrigen Mustern. Eleganz in seiner wunderschönen, verschwenderischen Fülle, gezeigt ohne jede Scham, weil der Schönheit der Platz eingeräumt wurde. Hier fühlt er sich wohl, er läuft und seine Gedanken verlieren sich an Victor, der Kunde für das Extra-Verdienen-und-Spaß-Haben-Dabei, eine Tätigkeit, die er »Liebesdienste« nennt, nach der regulären Arbeit, eine Arbeit für die Nacht, er läuft und lächelt und träumt vor sich hin und plötzlich stößt er auf einen Körper.
Er stößt mit einem Kunden des KaWeDe zusammen, will »Verzeihung« sagen, will seine Unachtsamkeit in Ausdruck bringen, doch sein Mund bleibt geschlossen. Nur für Sekunden treffen sich ihre Blicke. Aaron nimmt blaue Augen wahr, blondes, nach hinten gekämmtes, gewelltes Haar, wohlgeformte Kusslippen, schöne, dunkle Augenbrauen. Der Fremde hält eine Schiebermütze in den Händen, einen dunkelroten Schal hat er lässig um den Hals gewickelt, der Kragen seiner schweren Jacke ist aufgestellt. Er ist fast schon an ihm vorbeigegangen, eine ältere Dame redet auf den Blonden ein. Aaron muss sich etwas überlegen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er sieht, wie sich der Hüne beim Weitergehen noch mal zu ihm umdreht. Nie ist Aaron verwirrt oder schüchtern, oft sogar zu unvorsichtig, doch jetzt versagt alles in ihm. Der gewellte Hinterkopf entfernt sich, Aaron muss ins Lager, die Fenster müssen noch fertig dekoriert werden, die Zeit drängt. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn.
»Sag mal, träumste wieder mal von der Ufa ...?« Hilde aus der Spielzeugabteilung haut ihm auf die Schulter, »... oder biste schon wieder auf Wolke sieben verschwunden ... he?«
Aaron zuckt zusammen.
»Was willst du? Keine Zeit.«
Er läuft und holt den Fremden ein, ist natürlich außer Atem, versucht, diesen zu kontrollieren.
»Tschuldigung, kann ich Ihnen helfen? Ich arbeite nämlich hier.« Noch immer pustet Aaron wie verrückt.
»Nun, da müssen Sie schon meine Tante fragen, ich bin hier nur unter Protest mitgekommen.«
»Nein, junger Mann, wir haben schon alles gefunden. Schauen Sie mal, das sind doch ganz hübsche Hemden. Die soll er nämlich an der Universität tragen. Wenn ich seine alten Klamotten sehe, könnte ich richtig böse werden! Na ja, noch resigniere ich nicht. Und einige Trümpfe hab ich ja noch im Ärmel, also nichts für ungut. Herbert, ich schau mir noch die Krawatten an, wartest du hier auf mich?«
»Aber natürlich, Tantchen!«
Aaron lächelt verlegen. Wir sind jetzt ganz unter uns, denkt er und vergisst alles um sich herum. Zwei junge Männer auf Augenhöhe, der eine weiß unausgesprochen über den anderen Bescheid. Babelsberg. Was hätte Lubitsch aus diesem Moment gemacht? Natürlich muss man sich ein normales Paar vorstellen, zum Beispiel Lilian Harvey und Conrad Veidt. Minutenlanges Schweigen, prüfende Blicke. Aaron sucht nach Worten, denn er will diesen Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie schauen sich immer wieder schüchtern an.
»Sind Sie das erste Mal hier?« Aaron breitet seine Arme aus, und empfindet sich dabei als zu dramatisch. Verlegen schaut er über die Kunden hinweg, um dann doch wieder den jungen Mann vor sich zu betrachten. Ihre Blicke treffen sich und niemand von den beiden möchte sich mehr abwenden. Aaron fährt sich mit den Fingern durchs Haar, gerne würde er mit dem Unbekannten durchs KaDeWe schlendern, um ihm sein Reich zu zeigen. Auf der Stirn seines Gegenübers bilden sich Schweißperlen, die er nicht wagt, wegzuwischen. Aaron hört seinen eigenen Atem, er fühlt sich durch den Blick des fremden jungen Mannes gestreichelt, spürt ihn geradezu körperlich. Die beiden Männer scheinen sich in einem Kokon zu befinden, unmerklich bewegen sie sich aufeinander zu, nehmen nur einander wahr.
»Aaron, sag mal, wo treibst du dich denn herum?« Unangekündigt werden sie zurück in die Realität geworfen. »Glaubst du, die Arbeit macht sich von allein?« Aaron erschrickt, der Hüne hustet ein wenig zu laut.
»Nee, Chef, ich wurde aufgehalten, der Kunde hatte eine Frage an mich, und wir sollen doch unsere Kunden immer zufriedenstellen ... nicht wahr?«
Ein Lächeln setzt sich auf die Lippen des Hünen und schon ist er verschwunden.
Die Schaufensterpuppen werden mit der neuen Frühlingskollektion bekleidet. Aaron ist weit weg, in seinen Träumen versunken, niemand außer ihm hat dort Zutritt. Er braucht diese Traumwelt. Sie lässt ihn fliegen, eintauchen in Schönheit, Abenteuer, wilde Romanzen ohne bitteren Beigeschmack. Die Schaufensterpuppen werden zu Tänzerinnen mit zartgliedrigen Körpern. Lange Beine wirbeln durch die Luft. Er begutachtet jede Einzelne genau, verlangt sehr viel von den Mädchen, er, der Choreograph, peitscht, schreit, feuert an, tröstet, nimmt in den Arm. Sie vertrauen ihm. Aaron leitet die Tanzgruppe des Friedrichstadtpalasts. Die Kostüme müssen noch mal überarbeitet werden, sie sollen viel Haut zeigen, dürfen jedoch niemals ordinär wirken. Natürlich hat er immer das letzte Wort.
»Ihr müsst mehr auf eure Figur achten, wie sollen euch die Boys denn hochheben? So, jetzt möchte ich noch die berühmteste Girls-Line der Welt betrachten, um die uns sogar der Broadway beneidet, also los, Mädels!«
»Aaron, wie lange brauchst du denn noch? «
»Bin gleich fertig, Chef.«
»Na, sieht ja ganz gut aus, stell sie noch in die Fenster, danach kannst du Feierabend machen.«
Aaron setzt sich seine Mütze auf. Der Ku’damm schaltet schon seine Leuchtreklamen an. Autos knattern an ihm vorbei, Pferdedroschken poltern laut über die Straßen. Studenten in Kniebundhosen klingeln sich auf ihren