Die Zeit ohne uns. Rupert van Gerven

Die Zeit ohne uns - Rupert van Gerven


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Der Ku’damm ist voll wie eh und je. Kriegsinvaliden betteln, hungrig, Gliedmaßen amputiert, Gesichtern fehlt ein Auge, andere sind blind. Manchem Helden wurde die Haut verätzt. Sie verkaufen Streichholzpäckchen, Kartenspiele, Nähnadeln und sonstigen Schnickschnack. Hier sind die Vorbeigehenden rastlos und beachten die Bettelnden, auf den Steinplatten Sitzenden, kaum.

      Der Dekorateur blendet aus, der zweite Beruf muss heute noch ausgeübt werden. Er fühlt sich gut, die Welt will er umarmen. Pfeifend macht er sich auf den Weg. Victor wartet, will mal wieder verwöhnt werden. Aaron spürt ein Tippen auf seiner Schulter, dreht sich um, schaut in ein schüchternes, aber dennoch strahlendes Gesicht.

      »Tschuldigung, ich dachte ...«

      »Sie hätte ich nicht erwartet«, lächelt Aaron aufgeregt, schaut auf seine Uhr und flucht innerlich darüber, keine Zeit für diesen blonden Hünen zu haben.

      »Sie wollen mich doch jetzt nicht wegschicken, oder?«

      »Aber nein«, stottert Aaron und erklärt, dass er noch einen wichtigen Termin hat, den er unter keinen Umständen verpassen darf. Die beiden jungen Männer gehen wie selbstverständlich nebeneinander her. Die laue Frühlingsluft streichelt sie.

      An der Bushaltestelle bleibt Aaron stehen. »Mein Bus kommt gleich.«

      Augen verlieren sich, wollen dem Blick des anderen standhalten, unmöglich.

      »Sonntag um drei vor dem ›DéDé‹, okay?«

      »Wo ist das?«

      »Na, in der Bülowstraße ... werden Sie schon finden! Und ich bin übrigens Aaron.«

      »Herbert.«

      Sie wollen sich berühren, tun es doch nicht. Der Bus stoppt nur kurz vor ihnen, Aaron springt auf, winkt dem Unbekannten zu, dreht sich weg, die Nacht ruft und schon konzentriert er sich auf seine zweite Tätigkeit.

      ***

      Berlin-Dahlem. Ein eisernes Tor öffnet sich wie von Geisterhand, die lange Auffahrt wird zum Laufsteg. Aaron ist nicht aufgeregt. Er schlendert, ist beinahe gelangweilt und genießt den sternenklaren Abend. Kleine Windstöße versuchen, sein geordnetes Haar zu durchwühlen. Seine Motivation ist Geld, es ist das Einzige, was zählt, um das Leben zu führen, von dem er träumt. Die große Haustür wird geöffnet. Ohne die Hausdame im schwarzen Kleid zu beachten, betritt Aaron den italienischen Marmor. Auf der Freitreppe liegt ein roter Läufer. Zum Obergeschoss geht er zögernd und doch eilenden Schrittes hinauf. Er hat in unzähligen Filmen gesehen, wie es aussehen muss, als verzehre man sich, und doch nicht wirkt, als könne man es gar nicht mehr erwarten. Victor trägt einen blauen Pyjama mit schwarzen Punkten, darüber eine Hausjacke aus zarter Seide, seine Haare sind gefärbt, auf 180 Zentimeter verteilen sich auf circa 60 Kilogramm. Die Arbeit beginnt.

      »Mein Liebster, da bist du endlich, ich vergehe vor Lust. Wo bist du nur so lange geblieben?«

      Victor zieht Aaron in seine Arme, seine Lippen sind gierig, können nicht länger warten.

      »Victor, bitte, wieso glaube ich eigentlich immer wieder, dass du kultiviert bist und lasse mich dann so grob von dir behandeln? Also bitte!«

      Es ist ein Spiel. Aaron hält Victor auf Abstand, es ist, als würde er ein kleines Kind mit Schokolade locken, bereit, sie ihm als Ganzes zu geben, doch dann bekommt es von dem Nougat immer nur ein kleines Stück nach dem anderen.

      »Entschuldige, Liebster, lass uns in den Salon gehen, du wirst überrascht sein, was ich für uns alles anrichten ließ. Schau: Langusten, Hummer, Muscheln, feinste Pastete, Kaviar, französischer Käse aus Burgund, englisches Chutney, selbstgebackenes Bauernbrot. Und das Täubchen habe ich heute Morgen aus dem Delikatessengeschäft Förster in der Fasanenstraße bringen lassen. Aber natürlich zuerst einen Aperitif.«

      Die beiden oberen Knöpfe von Victors Pyjamajacke sind inzwischen geöffnet. Aarons Gesicht legt eine für diese Gelegenheit geeignete Mimik aus interessierter Zurückhaltung mit einem kleinen Schuss Erotik auf. Victor reicht seinem Gast ein Glas, Aaron macht einen Schritt auf Victor zu, dieser drückt seinen erregten Körper an ihn. Die beiden Männer schauen einander schweigend an. Die Gläser ergeben beim Anstoßen einen zarten Klang. Hand in Hand schlendern sie zum Tisch. Victor zieht den Stuhl vom Tisch, Aaron lässt sich darauf fallen und betrachtet zufrieden die üppig gedeckte Tafel. Das Mahl wird zum Fest.

      Geraume Zeit später liegen die beiden auf einem breiten Bett. Zartrosa Kissen umrahmen die beiden unterschiedlichen Körper, der eine ist als schön zu bezeichnen, der andere muss mit allerlei Stoff drapiert werden, um dann doch nur als fehlgeschlagener Versuch der Natur wahrgenommen zu werden. Ein schwerer Duft, den sich der Ältere auf seinen Körper gesprüht hat, liegt in der Luft. Victor liegt entspannt auf der Matratze. Aaron holt die Champagnerflasche aus dem Kübel und führt den Flaschenhals zum Mund seines Gastgebers, die Lippen umschließen die runde Öffnung. Jetzt folgt der zweite Akt seiner Arbeit. Willig nimmt Victor den Champagner auf. Ein sanftes Schaudern durchflutet seinen Körper, er reckt sich Aaron gierig entgegen. Aaron hebt Victors dünne Beine an. Ein erstickter Schrei. Aaron füllt Victor aus, stößt leicht in ihn hinein, bringt seinen schmächtigen Körper zum Schwingen. Victor ist keine Schönheit, recht groß von Gestalt, aber ein leichter Buckel im rechten Schulterbereich lässt ihn unförmig aussehen, seine Nase ist ein dicker Kolben, die Stirn zu hoch. Aarons Aufgabe ist es, Victor seine Makel vergessen zu lassen, ihm in seinen Armen das Gefühl zu geben, schön und geliebt zu sein. Natürlich hat alles seinen Preis und Aaron lässt sich sehr gut bezahlen. Er ist aber auch jede Mark wert. Aaron hält die Augen geschlossen, lässt seine Gedanken schweifen zu der Begegnung des Nachmittags, weckt so eine echte Leidenschaft in sich. Stöhnend genießt Victor unter ihm jeden wilden Stoß. Aaron wünscht sich Herbert herbei und fickt seinen Kunden fast brutal. Vor Augen hat er den blonden Jungen, seinen kräftigen Körper, die blauen Augen, das volle Haar, die wunderschönen Lippen. Aaron ist genervt von Victors rhythmischen Bewegungen, doch er macht seine Arbeit gut, stöhnt lauter als je zuvor, will sich zurücknehmen, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen, doch ein Blick auf Victors seligen Augenaufschlag lässt ihn im selben Ton weiter stöhnen. Aarons Fantasie geht spazieren, wird hinausgeführt aus diesem Raum. In einer kleinen Pension, in einem Zimmer, auf einem alten Bett, liegt sein Kopf auf der Brust eines Mannes, den er noch gar nicht kennt. Ein Schrei holt Aaron in das Schlafzimmer zurück.

      »Liebster, du bist so wunderbar, nie zuvor hast du mir so viel von dir gegeben, es war unglaublich!«

      Aaron schenkt Victor ein Lächeln, stellt sein Stöhnen ein, erhebt sich aus dem Bett, greift nach der Champagnerflasche und trinkt fast die halbe Flasche auf einmal aus. Durch den Alkohol wird das Ganze weniger anstrengend. Er geht in das angrenzende Badezimmer, setzt sich auf den Badewannenrand und lässt Wasser einlaufen. Immer ist der Badeofen für ihn vorgeheizt. Sein Kunde lehnt nackt am Türrahmen, kleine Speichelbläschen ruhen zufrieden in seinen Mundwinkeln.

      »Darf ich heute ausnahmsweise mal zuschauen?« Eine geflüsterte Bitte, in eine zitternde Stimme eingebettet, die keinem Betteln gleichkommen will und es dennoch tut. Glasige Augen nehmen befriedigt ein Nicken aus der Badewanne wahr. Ein unschönes Glied versteift sich, wird von beiden Männern ignoriert.

      »Ich möchte Auto fahren lernen! Kannst du mir eine gute Fahrschule empfehlen?«

      Aaron hat sich nie im Voraus von Victor bezahlen lassen. Heute weiß er, dass es sich rechnen wird. Der Hausherr verlässt das Bad, um Geldscheine in Aarons Hosentasche zu stecken, die Summe hat er verdoppelt. Vielleicht ist es übertrieben, aber wie viel Spaß steht einem Mann in seinem Alter und mit seinem Aussehen schon zu? Sein Wunsch ist es, ausschließlich zu genießen, nur für den Moment zu glauben, dass er tatsächlich geliebt wird und nicht nur gefickt.

      »Gisbert wird dir eine Fahrschule empfehlen, die Rechnung lässt du dann einfach an meine Adresse schicken.«

      »Victor, du bist so großzügig, dafür liebe ich dich.«

      Aaron springt aus der Badewanne, umarmt seinen Gastgeber mit triefend nassem Körper, spürt Knochen, die aus der Haut hervorzustechen drohen. Victor hat sich in einen weichen Bademantel gewickelt. Aaron schnappt sich ein Badelaken, drückt es seinem Gegenüber


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