Die Zeit ohne uns. Rupert van Gerven
anderen. Aus einem sanften Umfassen wird ein kräftiges Auf- und Abbewegen der Hände. Und immer wieder küssen sie sich. Herbert will an diesem Tag Aaron besitzen, er will in ihn eindringen, will seine Männlichkeit entladen, pulsierend, laut stöhnend will er kommen. Er hebt Aarons Beine an, zärtlich wird der erregte, angefeuchtete Penis eingeführt. Die beiden schauen sich an, wissen, dass sie das Schönste auf der Welt miteinander teilen. Aaron stöhnt leicht auf, ist ausgefüllt, kein Schmerz, nur Lust und Verlangen, sie lassen sich aufeinander ein, finden ihren Rhythmus. Kurz darauf entladendes Schreien, Stöhnen, Aaron und Herbert kommen beinahe zeitgleich. Ihre Liebesgeräusche bleiben im dicken Gemäuer hängen. Nackt betrachten sich die beiden, ihre Hände streicheln zärtlich die noch immer erregte Haut des anderen. Lachen befreit, wird unterbrochen von Küssen, die kein Ende nehmen wollen.
Die Zeit rückt voran, sie sollten vernünftig sein, sich anziehen, sich verabschieden, sie zögern die Trennung hinaus. Herbert ist auf seinem Ellenbogen gestützt, zärtlich streichelt er Aarons behaarte Brust, die Finger wandern über einen ermatteten Körper, die Augen folgen der Hand, diese berührt flüchtig den beschnittenen Penis. Herbert schaut Aaron fragend an, dieser schließt seine Augen. »Jude eben«, flüstert er unbekümmert.
»Wenn das mein alter Herr wüsste ... oh-oh!«, erwidert Herbert, »aber natürlich darf er gar nichts wissen von dem, was wir hier tun«. Er legt sich auf Aaron, verweilt und küsst ihn, dann krabbelt er vom Tisch und seufzt beglückt. Aaron folgt ihm, schaut auf den breiten Rücken, betrachtet die etwas schmalere Taille, den prachtvollen Po, er ist hingerissen von dem, was er sieht. »Ich muss zur Universität, eine Klausur schreiben. Wann sehe ich dich wieder? Ich brauche dich jeden Tag!« Sanft löst Herbert sich aus Aarons Armen.
»Mein Herz, Freitagabend können wir uns sehen, du holst mich nach meinem Feierabend ab, ja?«
»Aaron, erzähle mir niemals mehr von deinen Kunden und nimm auch nicht mehr das Wort ›Liebesdienst‹ in den Mund, es schmerzt zu sehr. Ich will glauben, dass ich der Einzige bin, den du liebst.«
»Aber das bist du doch, glaube mir.«
Sie ziehen sich schweigend an, Herbert ist in Gedanken schon an der Universität. Wird er seine Eifersucht bezwingen können, wird er ihn anschauen können, ohne an die Freier denken zu müssen, die sich Aaron bemächtigen? Aaron steht hinter Herbert, legt seine Hände auf dessen Hüften, küsst den Nacken. Herbert lehnt sich zurück, will nicht denken, nur diesen einen Moment genießen, hört leise an seinem Ohr: »Ich liebe dich jetzt schon.«
Berlin-Dahlem – Herbst 1957
Herbert und Aaron verlassen das Schlafzimmer. Warum verdrängen sie immer wieder, dass der Sex ihnen nicht hilft, ihre Probleme zu lösen? Immer öfter verletzen sie sich. Worte werden zu Handgranaten. Was ist ihre Liebe noch wert, besteht sie überhaupt noch? So oft machten sie Klimmzüge, schlugen sie Bögen, verschwanden in Hauseingängen, hielten den Atem an. Längst vergangene Zeiten.
»Möchtest du einen Kaffee?«
Aaron füllt den Kessel mit Wasser, entzündet den Gasherd. Sie schauen sich an.
»Der Bundespresseball, du hast eine Einladung, wirst du hingehen? Soweit ich weiß, wird Hildegard Knef dort sein, Schmeling und seine Frau Anny Ondra auch, Magda Schneider und Tochter werden erwartet.«
»Aaron, wenn wir nichts tun, verlieren wir uns!« Herbert ist verzweifelt, seine ruhige Art verliert sich. »Hilf mir, lass mich nicht allein.« Er hoffte, wie alle anderen auch, dass es nach dem Krieg wieder werden würde wie damals. Die Menschen spuckten in die Hände, glaubten an eine Zukunft. Das Schlagwort hieß »Wiederaufbau«, alle waren voller Hoffnung. Alte Freunde kamen nach und nach wieder aus den Zuchthäusern, den KZs in die so sehr vermisste Stadt zurück. Unvergessen die, die von den Nazis ermordet wurden. Endlich konnten aufregende Pläne geschmiedet werden. Nur ein Wermutstropfen hing in der Luft: Aaron und er konnten sich in der zerstörten Kraterstadt nicht finden. Wie viel Leid kann ein Mann ertragen?
Die Flöte vom Wasserkessel pfeift. »Wie lange kämpfen wir schon? Wann hat unsere Liebe aufgehört, selbstverständlich zu sein?« Aaron bereitet den Kaffee. »Herbert, ich weiß oft nicht weiter. Sobald ich dir die Wagentür öffne, damit du in den Wagen steigen kannst, möchte ich einen Fussel von deiner Anzugjacke zupfen, lasse es aber, es könnte ja jemand sehen und Andeutungen machen ... Wir sind Gefangene, unsere Gehege haben Höhlen, dort können wir ungestört sein. Unser Gefühl von Sicherheit haben sie uns ausgeschlagen. Schau dir mein Gebiss an, der beste Beweis dafür! Jedes Mal, wenn wir unsere Burg verlassen, schauen wir uns in sämtliche Richtungen um. Bloß nicht auffallen und dadurch verdächtig wirken, nie kann man sich sicher sein. Die Denunzianten haben ihre Arbeit wieder aufgenommen. Sie sollen sehr erfolgreich sein, obwohl es für ihre Arbeit keine Prämien gibt, Ehrensache eben.«
Herbert holt das Kaffeegeschirr aus dem Schrank, sie setzen sich an den Tisch. Müde sind sie. Die beiden fühlen sich um so vieles betrogen. Hände liegen auf der Tischplatte, bewegen sich aufeinander zu. Augen suchen im anderen Halt, doch die Kräfte sind ausgezehrt.
»Wäre die DDR keine gute Idee gewesen? Du bist Kommunist, mit offenen Armen hätten sie dich aufgenommen. Der Schriftstellerverband, hat dich das nie gereizt? Deine Themen wären tiefgreifender, reflektierter, gesellschaftspolitisch von Relevanz. Produktivität auf der ganzen Linie, du hättest wieder Spaß am Schreiben bekommen.«
»Ich war Kommunist? Das ist lange vorbei.«
»Bundespresseball, ja oder nein?«
»Gib mir noch Zeit.«
Champagner und Wodka – Frühling 1927
Feierabend vom KaWeDe. Aaron läuft, was das Zeug hält, er biegt in die Nürnberger, klingelt bei »von Lugenhold«, wirft sich gegen die schwere Haustür, welche sogleich aufspringt. Vier Treppen zu überwinden kann eine Ewigkeit dauern, wenn man es eilig hat. Seine Freundin Anton steht in der Wohnungstür und schaut einem Wirbelwind entgegen. Aaron versucht, Luft zu holen, immer wieder setzt er zum Sprechen an, stolpert über die lästigen Endsilben.
»In Ordnung, wie heißt er? Was will die berühmteste Berliner Edelhure trinken? Ist Champagner gut genug?« Anton hängt Aarons Mantel an die Garderobe und führt ihren zwanzig Jahre jüngeren Freund, der voller Energie Funken zu sprühen scheint, in den Salon. Dort sitzt bereits eine elegant gekleidete, dickliche Frau auf einer Chaiselongue, die nackten Füße auf einem antiken Beistelltischchen abgelegt.
Aaron berichtet, dass er sich verliebt habe, in den süßesten Mann Berlins.
»Aber natürlich. Was denn sonst?«
»Du glaubst es nicht, aber ich schwöre dir, er hatte erst zwei Männer vor mir, natürlich war ich sehr zärtlich, ist ja klar, stell dir vor: im Lager des KaDeWe. Es war so unbeschreiblich romantisch«, Aaron lässt sich in einen Sessel fallen, »na, du weißt ja nicht, wie es sein kann, wenn man den Kopf verliert?« Er seufzt und stellt fest, dass sein Glas leer ist.
»Nein, nein, natürlich nicht, wie auch? Darf ich vorstellen: Claire, die kennst du sicher? Wir haben es uns ein wenig gemütlich gemacht und genießen ein Glas Champagner.«
»Nö, woher denn? Ich brauche noch einen Schluck, kann ich zum Essen bleiben, ich muss mich stärken, na, bei meinen Berufen, da soll man nicht verrückt werden. Diese ganze Anstrengung, und allem muss man gerecht werden ... Claire, was machen Sie beruflich? Oder sind Sie vielleicht einfach nur reich? Ach, das muss so wunderbar sein, man genießt jeden Tag, der alltägliche Kram wird vom Personal erledigt. Ich bräuchte meinen Luxuskörper nicht zu verkaufen, an nie zufriedenzustellende Kunden, deren Wünsche ja auch immer ausgefallener werden. Wenn Sie wüssten ... na ja, ich will mich nicht beschweren, immerhin lohnt es sich finanziell. Na ja, was kann ein unbedarfter Junge wie ich schon tun?«
Anton schenkt Champagner nach. Aaron fläzt sich in einen Ohrensessel, sein linkes Bein hängt über der Armlehne. Seine Stirn legt er in Falten, schaut in die Gesichter der beiden dicklichen Frauen.
»Anton, ich kann auf Dauer so nicht weitermachen, die Lage ist kompliziert, Herbert hat so seine eigenen Moralvorstellungen, und