Pilgerwahnsinn. Jörg Steinert
Kontrastprogramm zum beschleunigten Alltag darstellt.
Gemäß einem Sprichwort pilgert man nach Jerusalem, um Jesus zu finden, und nach Rom, um auf den Spuren von Petrus zu wandeln. Auf dem Weg nach Santiago findet man aber vor allem sich selbst.
Meine erste Pilgerreise war trotz eines holprigen Starts unbeschreiblich schön und fühlte sich wie das Paradies auf Erden an. Beim zweiten Mal ging sehr viel schief, die Voraussetzung für ein noch größeres Abenteuer. Jeder weitere Weg war anders und brachte mir jeweils nicht das, was ich suchte, sondern was ich brauchte. Egal wie groß die Frustrationsmomente zwischendurch auch waren, am Ende strahlten meine Augen vor Glück.
Zu Fuß in der Fremde unterwegs sein. Meist allein, aber nicht einsam. Das ist der Jakobsweg.
1 WIE ICH PILGER WURDE
Bonding statt Pilgern
Das ist also der Jakobsweg?“, fragte ich mich. Da lag ich, auf dem Fußboden einer spanischen Ferienwohnung. Unter mir eine Frau, die weinte, weil ich sie an ihren Ex-Ehemann erinnerte. Das Ganze war Teil einer Übung namens Bonding. Warum hatte ich diese absurde Selbsterfahrungs-Reisegruppe gebucht? Warum wollte ich unbedingt auf den Jakobsweg? Wie konnte es so weit kommen, dass ich als schwuler Mann auf einer weinenden Frau liege?!
Ich war noch nie besonders sportlich, religiös oder spirituell. Und ich wollte bloß keine Veränderungen in meinem Leben. Alles wie gewohnt. Alles wie geplant. Abweichungen von meinen konkreten Erwartungen verursachten immer große Enttäuschungen. Vielleicht ist es bis heute deshalb ein so großes Abenteuer für mich, den Jakobsweg zu entdecken. Am Morgen weiß ich noch nicht mit Gewissheit, wo ich abends schlafen werde und wie weit mich meine Füße tragen.
Hätte jemand vor dem Jahr 2014 die Vermutung geäußert, dass ich mich auf den Camino de Santiago, also den Jakobsweg, einlasse, hätte ich sie oder ihn vermutlich für verrückt erklärt. Doch meine Studienfreundin Madeleine, die ich einige Jahre aus den Augen verloren hatte, erzählte mir im Oktober 2014 von ihrer Pilgerreise. Für mich war der Weg bis dahin nicht besonders reizvoll. Mich faszinierte jedoch, dass sich eine moderne Großstädterin, deren früherer Schulweg der Berliner Kurfürstendamm war, so offen darauf eingelassen hatte.
Einige Tage nach dem Gespräch mit Madeleine ging ich in eine Buchhandlung und musste feststellen, wie viele Bücher es über den Jakobsweg gibt. Ungeduldig griff ich mir schließlich das Buch mit dem schönsten Coverbild und kaufte es. Ein Buch über den Camino del Norte, der entlang der spanischen Atlantikküste verläuft.
Es schien wenig wahrscheinlich, dass mein damaliger Partner mich begleitet. Er war zwar fit und kulturell interessiert, aber er konnte sich nicht für das Wandern begeistern und unsere Beziehung stand sowieso kurz vor dem Aus. Also entschied ich mich, diese Reise unabhängig von ihm anzutreten.
Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich allein Urlaub gemacht, immer im Schlepptau von Familie, Freunden oder Partner. Von Rucksacktourismus ganz zu schweigen. Daher war ich ganz froh, als ich auf einer sehr ansprechenden Internetseite über den Jakobsweg ein Angebot für eine angeleitete Gruppenreise fand.
Eigentlich richtete sich die Reise an sehr junge Erwachsene, zu denen ich mit meinen 33 Jahren laut Reiseangebot nicht mehr gehörte. Trotzdem fragte ich beim Anbieter nach. Wir vereinbarten einen Telefontermin. Ich kam mir dabei vor wie bei einem Bewerbungsgespräch. Aber entscheidend war das Ergebnis: Ich durfte mit.
Wenige Monate später, es war inzwischen Anfang April, saß ich auf dem Flughafen von Bilbao und wartete auf die anderen Mitreisenden. Ich war so erleichtert, als ich mitbekam, dass weder die Frauen noch die Männer der beworbenen Altersgruppe entsprachen. Mit Bus und Bahn ging es gemeinsam nach Irun, von dort zu Fuß ins bezaubernde Hondarribia. Unser Reisebegleiter machte einen etwas verwirrten Eindruck. Aber ich dachte mir nichts weiter dabei.
Wir hatten eine zentral gelegene Ferienwohnung, direkt im Ortskern. Doch erst einmal entbrannte eine Diskussion darüber, wer welches Bett bekommt. Ich war davon ausgegangen, dass jeder sein eigenes Zimmer hat. Fehlanzeige. Im Angebot waren Mehrbettzimmer und sogar ein Doppelbett. Ich nahm ein Kinderbett in einem Durchgangszimmer. Hauptsache allein. Und der Blick über die Bucht nach Frankreich war einfach großartig.
Am nächsten Morgen fanden wir uns in einem Stuhlkreis wieder und sprachen über Lebenskrisen. Mir schien das alles unangemessen intim. Aber ich wollte kein Spielverderber sein und machte mit. Mich selbst beschäftigte gerade das Ende meiner Beziehung.
Gegen Mittag wurden schließlich Körperübungen angekündigt. „Na endlich“, dachte ich mir und erwartete Wandervorbereitungen und hilfreiche Tipps. Stattdessen wurde uns Bonding vorgestellt. Von der Sexualpraktik Bondage hatte natürlich jeder von uns schon gehört. Aber Bonding?
Unser etwa 29-jähriger Reisebegleiter, ein kleiner muskulöser Mann, der nach Schweiß roch, erläuterte uns, dass wir Paare bilden müssten. Dann würde sich eine Person auf den Fußboden legen und die andere Person auf sie drauf. Während alle anderen schwiegen, verschränkte ich die Arme vor meinem Oberkörper und sagte etwas patzig: „Nein!“ Ich wollte das nicht machen. Alle anderen stimmten mir zu. Wir wurden um eine Pause gebeten.
Während der Pause entschieden sich alle um. Jetzt waren wir einmal hier, dann könnten wir uns auch auf die Übung einlassen. Eine sehr sympathische Frau, mit der ich mich von Anfang an gut verstand, fragte mich, ob wir die Übung zusammen machen würden. Ich war so erleichtert. Denn einige andere Mitreisende fand ich etwas bizarr. Da waren ein junger Mann, der sich an traumatisierende Erfahrungen als Säugling zu erinnern meinte, eine junge Frau, die vor allem verunsichert schien, und ein frommer Mann mittleren Alters mit Bibel und Gebetbüchern im Gepäck.
Bevor die Übung losging, vergewisserte ich mich, keine Schweißflecken unter den Armen zu haben. Schließlich hatte ich die ganze Zeit ein negatives Beispiel vor Augen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen der netten Frau. Aber sie sollte zuerst unten liegen. Ganz vorsichtig legte ich mich auf sie. Eigentlich sollte die Übung der Entspannung dienen, aber ich war total angespannt, weil ich die zierliche Person unter mir nicht verletzen wollte. Und dann das. Sie fing an zu weinen. Hilflos wusste ich nicht, was ich tun sollte. Der Bonding-Guru kam zu uns, streichelte ihre Schulter und fragte sie, warum sie weinen müsse. Sie antwortete, dass ich sie an ihren Mann erinnern würde, den sie nach zwanzig Ehejahren erst kürzlich verlassen hatte.
Noch während wir dalagen, beschloss ich, dem Spuk ein Ende zu machen. Nicht sofort. Ja keine Szene machen. Aber meinen Urlaub wollte ich keinen weiteren Tag in dieser Gruppe mit diesen skurrilen Aktivitäten verbringen.
Es war etwa 5 Uhr morgens am nächsten Tag, als ich aufwachte. Es war dunkel und ruhig, ich konnte die Lichter in Frankreich sehen. Als Erstes musste ich feststellen, dass mein Gepäck nicht in meinen Rucksack passte, wenn ich auch Wasser und Essen mit mir führen wollte. Ich begann daher, einige mitgebrachte Kleidungsstücke zu entsorgen, auch wenn es mir widerstrebte. Ich konnte das unmöglich alles mit mir schleppen. Als ich die Tür der Ferienwohnung gegen 6 Uhr leise hinter mir schloss, wusste ich, dass es kein Zurück geben würde. Schließlich hatte ich keinen Schlüssel.
Das morgendliche Hondarribia glich einem Gemälde. Die Straßenlaternen dieses historischen Ortes leuchteten. Das nasse Kopfsteinpflaster reflektierte das warme Licht. Es war nur ein kurzer Stadtspaziergang. Am Rande des Ortes suchte ich mit Mühe die ersten gelben Pfeile, die den Weg nach Santiago weisen, und lief den Berg nach oben. Etwa zwei Stunden, bei Dunkelheit, Regen und ganz viel Matsch. Zum Glück hatte ich eine Stirnlampe dabei.
Es war ein beschwerlicher Weg. Und an der ersten Wegkreuzung, es wurde inzwischen heller, fragte ich mich, wohin ich laufen sollte. Den normalen Weg oder die schwere Variante, die bei schlechtem Wetter nicht empfohlen wird. Trotz starkem Regen entschied ich mich für die steile Variante. Ich kam mir vor wie ein großer Abenteurer. Und ein bisschen plagte mich auch ein schlechtes Gewissen, da ich der Pilgergruppe nicht mal eine Nachricht hinterlassen hatte. Was würden sie denken? Ich wollte natürlich auch nicht, dass sich irgendjemand Sorgen macht. Aber egal, der Weg war einfach zu mühsam, ich konnte mir darüber jetzt keine Gedanken machen.
Auf