Pilgerwahnsinn. Jörg Steinert

Pilgerwahnsinn - Jörg Steinert


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Hondarribia, die baskische Perle in Spanien, sowie auf die französische Küste und den Atlantik. Ich griff zu meinem Mobiltelefon und rief meine Eltern an. Ich wollte mich mitteilen. Doch die Geschichte vom Bonding und der Flucht hätten einen zu besorgniserregenden Eindruck hinterlassen. Im Ergebnis brachte ich daher nur die Aussage heraus: „So schön habe ich es mir nicht vorgestellt. Es ist wunderschön.“

      Sven, das war der Mann mit Bibel und Gebetbüchern, war inzwischen auch unterwegs. Er fragte mich per SMS ziemlich direkt, ob ich geflohen sei. Was ich nur bestätigen konnte. Auch er hatte die Schnauze voll und plante kein Wiedersehen mit der Gruppe in der nächsten Pilgerherberge.

      Sowohl Sven als auch ich beschlossen, aus zwei Tagesetappen eine zu machen. Hauptsache Abstand zwischen uns und die Bonding-Gruppe bringen. Wir trafen uns am Abend in der Jugendherberge im schicken San Sebastián wieder. Und da gerade Ostern war, hatten wir großes Glück, die letzten Betten zu ergattern.

      Sven und ich hatten nicht viel gemein. Er war Mitte 40, heterosexuell, sehr gläubig, ein gestandener sportlicher Typ und ein ziemlicher Macho. Aber die gemeinsame Flucht einte uns.

      Anfängerglück

      Eine wichtige Lektion hatte ich bereits gelernt. Du kannst Pech haben im Leben. Aber entscheidend ist, wie du damit umgehst. Natürlich ärgerte es mich, dass wir abgezockt worden waren. Aber während Sven darüber nachdachte, wie er sich das für die Gruppenreise gezahlte Geld zurückholen könnte, war ich vor allem froh darüber, dass ich mir keine weitere Lebenszeit rauben ließ.

      Am nächsten Morgen liefen Sven und ich gemeinsam weiter. Auf dem Weg begegneten wir auch den ersten anderen Pilgerinnen und Pilgern, darunter Matis – ein Aussteiger aus München, der seinen Job und seine Wohnung gekündigt hatte. Der charmante Matis verdrehte Frauen wie Männern, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, den Kopf. Als er jedoch von den Stimmen in seinem Kopf erzählte, ging ich sofort auf Distanz. „Nicht noch mehr wirres Zeug“, dachte ich mir. Sven störte sich weniger daran. Wer felsenfest an Gott glaubt, zweifelt vielleicht auch nicht an Stimmen im Kopf – so meine damalige These. Ich wollte damit aber nichts zu tun haben.

      Inzwischen hatten sich Sven und ich auch ordnungsgemäß von unserer Reisegruppe abgemeldet. Da wir am Tag zuvor eine beachtliche Strecke zurückgelegt hatten, wollte Sven nur bis ins 14 Kilometer entfernte Orio laufen. Matis wollte auf jeden Fall weiter. Ich war noch unentschlossen. Aber auch ich machte wie Sven bei „Mama Camino“, so nennt man die Herbergsmutter Rosa, Halt. Die Herberge war eine frühere Garage, liebevoll hergerichtet. Wir wuschen unsere Wäsche mit der Hand, wrangen sie gemeinsam aus, beobachteten sie beim Trocknen im Wind und genossen die Frühlingssonne.

      José, ein spanischer Pilger, wollte immer wieder mit uns ins Gespräch kommen. Da er aber kein ­Englisch sprach und wir kein Spanisch, war dies kaum möglich. Wir verstanden uns trotzdem gut. José ­faszinierte an mir, dass ich nach nur zwei Pilger­tagen schon so viel Wäsche auf der Leine hatte – und überhaupt so viele Wechselkleidung mit mir führte.

      Später am Nachmittag trafen Renate, Maria und Christine ein, drei deutsche Frauen. Sven musste jedem unsere Geschichte vom Bonding erzählen. Mir war das etwas peinlich. Zugleich war die Geschichte ein perfekter Eisbrecher. Es war mein erster richtiger Pilgertag. Laufen in Gesellschaft, eine gemütliche Pilgerherberge, gemeinsames Abendessen und pünktlich um 22 Uhr wurde das Licht im Schlafsaal ausgemacht.

      Gruppenschlafsäle waren mir bis dahin immer ein Graus. Doch während wir dalagen, fühlte ich mich geborgen. Renate, eine evangelische Theologin mit tiefer Stimme, sagte auf einmal laut in den Saal hinein: „Jörg, was macht denn jetzt eure Bondage-Gruppe?!“ Die Verwechslung zwischen Bondage und Bonding war gewollt. Alle mussten lachen. Wenige Minuten später ertönten die ersten Schnarchgeräusche.

      Vorsorglich verabschiedeten sich Renate, Christine, Maria, Sven und ich am nächsten Morgen voneinander. Und auch wenn mir die anderen Pilger sympathisch waren, ich wollte mich an keine neue Gruppe binden und frei sein. Und es war wirklich herrlich, links die Berge, rechts das Meer und vor mir der hügelige Weg.

      Allein zu pilgern bedeutete aber auch, auf sich und seine Gedanken zurückgeworfen zu sein. Und als ich zwischen zwei Orten entlang der viel befahrenen Küstenstraße lief, fand ich es nicht mehr so schön – ich fühlte mich fast ein bisschen einsam. Denn da war niemand, mit dem ich über diesen doofen Wegabschnitt lästern konnte. Und ich fragte mich auf einmal, was ich hier auf dem Jakobsweg überhaupt wollte. Ich wurde immer langsamer, unmotiviert schlurfte ich vor mich hin. Und genau in diesem Moment drehte sich ein vorbeieilender älterer Spanier um und wünschte mir einen „Buen Camino“, also einen guten Weg, den man Pilgern für ihre lange Reise wünscht. Ich hatte diesen Gruß schon zuvor gehört. Aber dieses „Buen Camino“ traf mich mitten ins Herz. Der Herr lächelte freundlich dabei und schon war er entschwunden. Ich musste mit den Tränen kämpfen. Wie konnte es sein, dass mir dieser Unbekannte ungefragt genau das gab, was ich brauchte: Aufmerksamkeit.

      Am nächsten Ort war ich so froh, auf Sven zu stoßen, der ein Cerveza, ein spanisches Bier, genoss. Auch er freute sich sehr, mich zu sehen. Wir zogen zusammen weiter.

      In den kommenden Tagen genoss ich es, einen Teil meiner Tagesetappe mit den anderen Pilgern zu verbringen und abends in derselben Herberge abzusteigen. Es war schön, sich über die Tageserlebnisse und was uns im Alltag bewegte auszutauschen. Wir genossen das gewachsene Miteinander. Es floss viel Rotwein. Und trotzdem waren wir am nächsten Tag wieder fit wie ein Turnschuh.

      Ich konnte es morgens kaum erwarten, dass das erste Handy ertönte. Ich war meist schon eine Stunde früher wach, in freudiger Erwartung auf die nächste Tagesetappe. Eine Tour schöner als die andere. Und dank der gelben Pfeile war es so gut wie unmöglich, den Weg zu verlieren.

      Ich war der Einzige, der im Alltag keinen Sport trieb. Maria und Sven berichteten von ihren Marathonerfahrungen. Darüber konnte ich nur staunen. Trotzdem lief alles so gut. Keine Blasen an den Füßen. Und auch keine anderen körperlichen Beschwerden. Was für ein Anfängerglück.

      Ungewohnt war es jedoch schon, kein eigenes Zimmer zu haben. Und als sich eines Nachmittags eine junge Pilgerin auffällig kratzte und lautstark fragte, ob das Flohbisse seien, regte sich ein Ekelgefühl in mir. So richtig verging mir dann die Abenteuerlust, als sich die gleiche Person für eine Unterhaltung auf mein Bett setzte. Ich hörte ihr kaum zu und sah stattdessen die imaginären Flöhe in meinen Schlafsack hüpfen.

      Noch mehr vermisste ich ein eigenes Badezimmer. Ich fand es immer eklig, anderen Menschen beim Zähneputzen zuzusehen – selbst meinem eigenen Partner. Auch wollte ich selbst nicht dabei beobachtet werden. Mein Bedürfnis nach ausreichender Privatsphäre war groß. Doch aufgrund der wenigen Sanitäranlagen in den Pilgerherbergen blieb es nicht aus, dass wir zu dritt oder viert zusammen am Waschbecken standen. Ich versuchte die anderen zu ignorieren, was jedoch nicht möglich war, da uns Maria, die als zahnmedizinische Fachassistentin arbeitete, auf die jeweiligen Putztechniken ansprach.

      „Du benutzt wohl auch keine Zahnseide? Wie meine Schwester Christine“, merkte Maria kritisch an. Obwohl es Maria gar nicht anklagend meinte und ich ebenso wie Christine in Gegenwart anderer nicht mit der Zahnseide rumspritzen wollte, fühlte ich mich in einer Rechtsfertigungsposition. Renate kam mir zur Hilfe: „Ich benutze auch keine Zahnseide.“ Worauf Maria nur antwortete: „Das habe ich mir schon gedacht.“ Mit dieser Bemerkung machte sich Maria bei Renate sehr unbeliebt. Noch am nächsten Tag regte sich Renate darüber auf. „Hat die etwa gemeint, ich habe schmutzige Zähne?“, fragte sie mich. Aber Renate war sowieso eine recht impulsive Person, weshalb andere Gefühle diesen Vorfall schnell in Vergessenheit geraten ließen. Sven war ähnlich gestrickt. Gleichzeitig war ich für ihn „der beste Camino-Freund“. Emotional überschwänglich äußerte er, dass er die Bonding-Übung am liebsten mit mir gemacht hätte. Ich hingegen hätte die Übung am liebsten gar nicht gemacht. Sven stimmte mir lachend zu.

      Die 52-jährige Christine war ganz anders, zurückhaltend, gutmütig und fürsorglich. Die zweifache Mutter verstand sich mit jedem von uns gut. Sie war um das Wohlbefinden aller sehr bemüht. Und meine skeptischen Nachfragen zu katholischen Glaubenshandlungen


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