Erben. Eva Madelung

Erben - Eva Madelung


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ich nicht erst nach Phillip suchen?«

      »Ja, tu das!«

      Ich fand meinen Bruder lachend und mit seinen Freunden schwätzend auf dem Pausenhof. »Der Rex sagt, wir sollen sofort Mutter anrufen«, rief ich ihm entgegen. »Seltsam!«

      Wir gingen zusammen zur Sekretärin des Rektors, die für uns die Verbindung herstellte. Wir waren beide sehr nervös und angespannt, und ich fragte mich, ob unsere Mutter überhaupt ans Telefon gehen würde. Die Reaktionen auf unsere bisherigen Versuche, mit ihr in Kontakt zu treten, waren nicht gerade ermutigend, im Gegenteil. Ich hatte vielmehr den Eindruck, ihr Alkoholismus würde immer schlimmer.

      Mutter hob jedoch gleich ab: »Gut, dass du anrufst, Maya. Euer Vater ist verunglückt.«

      Sie sprach leise, und ich fragte erschrocken: »Wo und wie? Kann man ihn besuchen? In welchem Krankenhaus liegt er?«

      »Nein«, kam es kaum hörbar zurück. »Er ist tot … In vier Tagen ist das Begräbnis. Ihr müsst sofort kommen!«

      Mutter hängte auf, ich starrte entsetzt vor mich hin. Phillip fragte angstvoll: »Was ist los?«

      Ich konnte kaum sprechen und brach in Tränen aus. »Papa … ist verunglückt. Er … er ist …«

      »Was ist er?«

      »Tot!«, schluchzte ich und nahm ihn in den Arm.

      Wir weinten fassungslos und hielten uns aneinander fest. Die Sekretärin wurde auf uns aufmerksam und fragte, was los sei. Ich antwortete nichts und ging mit Phillip auf mein Zimmer.

      »Wir müssen Mami noch mal anrufen«, sagte ich, als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. »Wir müssen wissen, wann wir kommen sollen und wie?«

      Ich ging zurück ins Sekretariat und probierte es erneut, aber Mutter hob nicht mehr ab. Ich rief bei unserer ebenfalls in Frankfurt wohnenden Tante Ursel an: »Ihr könnt erst mal bei uns bleiben. Bitte kommt möglichst bald!«

      Am nächsten Tage saßen wir im Flugzeug von Zürich nach Frankfurt, traurig, verwirrt und angespannt. Was würde jetzt werden? Wie sollte das alles weitergehen?

      Ursula von Lehndorff, die Schwester meines Vaters, holte uns am Flughafen ab. Wir erfuhren, dass unsere Mutter nicht zur Beerdigung kommen würde, und waren froh, dass wir bei der Tante wohnen konnten. Bei Mutter wusste man nie, ob sie nicht angetrunken war.

      Von Onkel Karl erfuhren wir, dass unser Vater mit seinem neuen Sportwagen eine Spritztour durch den Taunus unternommen hatte und in einer Haarnadelkurve gegen die Leitplanke geprallt war; dabei war er so schwer verletzt worden, dass er noch im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben war. »Gott sein Dank ist niemand anderer zu Schaden gekommen.« Mir fiel auf, dass unser Onkel den letzten Satz mit besonderer Betonung sprach.

       DIE BEERDIGUNG

      Die Aussegnungshalle des Höchster Friedhofs war bis zum letzten Platz besetzt. Es hatte sich viel Prominenz versammelt. Philipp und ich saßen mit Tante und Onkel in der ersten Reihe. Der Sarg, bedeckt mit üppigen Kränzen und Bouquets, stand leicht erhöht, und bei meinem Bruder rannen ununterbrochen die Tränen. Ich dagegen war innerlich wie gefroren, fühlte gar nichts und blickte starr vor mich hin. Dort vorne hielt jemand eine Rede, es handelte sich wohl um den Vorstandsvorsitzenden der Börse. Wie durch einen Schleier hörte ich, wie er die Verdienste unseres Vaters hervorhob und sein gewinnendes Wesen pries. Gewinnendes Wesen, ja, das stimmt!, dachte ich und sah meinen Vater vor mir, wie er herzlich mit uns lachte bei den seltenen Gelegenheiten, an denen er etwas mit uns unternommen hatte. Einmal, auf einer längeren Wanderung, als ich nicht mehr laufen konnte oder wollte, hat er mich auf seinen Schultern getragen, und ich lenkte ihn, indem ich ihn mal links und mal rechts bei den Ohren zog. Auch er fand das lustig, machte Bocksprünge, während ich vor Freude laut kreischte.

      Als der Sarg schließlich hinausgetragen wurde, hatte ich von den Reden kaum etwas mitbekommen, und nachdem er in die Erde versenkt war, standen Phillip und ich neben dem Grab und nahmen die Beileidsbekundungen entgegen. Ich kannte die meisten Menschen gar nicht, und mir fiel es zunehmend schwer, das durchzustehen.

      Beim Mittagessen, zu dem nur ausgewählte Gäste geladen waren, saß Phillip neben der Frau eines engen Mitarbeiters unseres Vaters. Ich überhörte, wie sie in den höchsten Tönen von ihm schwärmte und seine Fähigkeiten und Verdienste pries: »Niemand hat ihm seine Schwäche für schnelle Autos verübelt, er gönnte sich ja sonst nichts und arbeitete Tag und Nacht. Er war äußerst charmant, und ich habe ihn sehr geschätzt.«

      Phillip bekam mit, welches Ansehen und welche Wertschätzung unser Vater genossen hatte. Aber ich hatte das Gefühl, dass ihm das alles zu viel wurde und er am liebsten davongelaufen wäre.

      Mich hatte man neben dem Vorstandsvorsitzenden der Börse platziert. Er wiederholte mir gegenüber noch einmal, was er schon in der Rede gesagt hatte, und schmückte es noch aus: »Ihr Vater war ein so gewinnender und kluger Mensch und unter anderem äußerst kritisch gegenüber Wirtschaftsforschungsinstituten. Von diesen hat er gar nichts gehalten. Mir gegenüber hat er einmal gesagt, dass sie eine Rezession noch nicht einmal erkennen würden, wenn sie schon seit längerer Zeit im Gange ist. Vom Sachverstand der Politiker hielt er auch nicht viel und war unter anderem der Meinung, die Planungen über ein europäisches Währungssystem kämen viel zu früh. Das könnte gar nicht gutgehen.«

      Ich nickte zustimmend, denn meine Meinung von ihm war schon immer hoch gewesen, und ich hatte auch häufig gespürt, dass er – ohne es offen zu zeigen – mich meinem Bruder vorzog, vielleicht weil ich in vielen Dingen ihm nachschlug.

       DAS TESTAMENT

      Nachdem die Beerdigung vorüber war, machten wir uns fertig, um wieder in das Internat zurückzukehren. Da eröffnete uns Tante Ursulas Ehemann Karl, ein angesehener Rechtsanwalt und enger Freund unseres Vaters, dass er ihn vor einigen Jahren gebeten habe, die Testamentsvollstreckung zu übernehmen, wenn ihm etwas zustoßen sollte. »Euer Vater hat ein beträchtliches Vermögen hinterlassen«, sagte er. »Sein Testament wird in zirka sechs Wochen eröffnet. Ich werde euch helfen, mit dem Erbe umzugehen, bis ihr volljährig seid und dann eure eigenen Entscheidungen treffen könnt.«

      Natürlich war mir schon länger klar gewesen, dass unser Vater ein vermögender Mann sein musste, da wir auf dieses Internat gingen. Aber ich hatte mir bisher wenig Gedanken gemacht, was das für mein künftiges Leben bedeutete. Vater hatte uns immer wieder eingeschärft, wie wichtig eine gute Ausbildung sei und dass wir uns nicht allein auf unser Erbe verlassen sollten. So hatten wir beide meist gute Noten mit nach Hause gebracht, und Phillip zählte immer zu den Besten seiner Klasse. Ich musste mich mehr anstrengen, glich aber meine Schwächen durch Fleiß aus.

      Onkel Karl sagte, Vater hätte sich vorgenommen, uns zum 18. Geburtstag eine größere Schenkung zu machen und uns dann bei der Verwaltung behilflich zu sein. Dazu war es nun nicht mehr gekommen. So wurde der Onkel für uns zu einer Art Vaterersatz, und mein Bruder und ich fühlten uns der neuen Situation als Halbwaisen nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert.

      Nach Ablauf der sechswöchigen Frist reiste Karl zu uns nach Zuoz, um das inzwischen veröffentlichte Testament zu besprechen. Er hatte sich im Hotel Engadina einquartiert und uns ausrichten lassen, dass wir ihn am Nachmittag dort besuchen sollten. Wir trafen uns auf seinem Zimmer, und er bestellte Kaffee und Kuchen, ehe er jedem eine Kopie des Testaments in die Hand drückte. Für mich war vor allem die Höhe des Erbes ein Schock. Außerdem erstaunte mich die Tatsache, dass Vater auch eine gewisse Sigrid Mollenhauer mit einer beträchtlichen Summe bedacht hatte. Mir war zwar eine unbekannte Frau unter den Trauergästen aufgefallen, aber ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht.

      »War das die blonde Frau auf der Beerdigung, die ich nicht kannte, die aber gleich wieder ging und beim Leichenschmaus nicht dabei war?«, fragte ich Onkel Karl. »Ja, Sigrid war schon vor der Scheidung eurer Eltern mit eurem Vater befreundet und wurde dann zu seiner Partnerin. Sie ist auch Börsenmaklerin


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