Die Liebenden bei den Dünen. Lu Bonauer
alle politischen Entscheidungen, Schritte, Irrwege akribisch, aber für die eigene Liebe zeigten sie kein Interesse. Und wenn sie in trüben Gefühlen badeten oder existenzielle Langeweile empfanden, zogen sie es vor, sich draußen, vor der Universität, aufzuhalten statt in der Bedrücktheit ihrer eigenen vier Wände.
An so einem Nachmittag – es war Sommer, die Luft schwül und flirrend vor Hitze – begegneten sich Silas und Romy das erste Mal. Der Park auf der Haupteingangsseite der Universität lud im Page 23Schatten der Eichen zum Verweilen ein. Als Silas an Romy vorüberschlenderte, scheinbar in Gedanken versunken, blieb er augenblicklich stehen, weil er etwas gesehen hatte, das ihm vertraut war. Er zeigte – noch bevor er sich dessen bewusst war – auf das Buch, das neben ihr lag, und setzte sich zu ihr hin.
Romy nahm es erstaunt zur Kenntnis. Sie kam nicht wie sonst dazu, das Buch vor fremden Blicken in ihrer Tasche zu verbergen; ehe sie sich’s versah, hatten sie zu debattieren begonnen. Sie waren sich uneinig, ob Romeo und Julia ihren Untergang wirklich selbst bewirkten – und einig, dass ihr Akt des freien Willens ausdrückte, mit welcher Konsequenz sie mit ihrer Liebe eins waren. Das mochten Romy und Silas irgendwie.
So unmittelbar sie sich in das Gespräch verstrickten, so heftig sie sich gegenseitig ihre Ansichten mitteilten, so abrupt lösten sie sich wieder. Hatten sie eben noch aufeinander eingesprudelt, verstummten sie nun schlagartig, hatten keine Kraft, sich zu verabschieden, und stahlen sich – erstaunt, so schnell ihr Inneres nach außen gekehrt zu haben – nacheinander aus dem Park, ohne die Düfte des Sommers oder irgendetwas anderes wahrzunehmen. Das Geschoss der Liebe hatte sie augenblicklich getroffen.
In den darauffolgenden Tagen hielten sie insgeheim nacheinander Ausschau. Doch als wäre ihre Page 24Begegnung ein Spuk gewesen, sahen sie sich auch in den kommenden Wochen und Monaten nicht. Die Temperaturen sanken, der Boden wurde frostiger, und Silas und Romy, die sich in ihren vorherigen Zustand zurückwühlten, ärgerten sich über die Dummheit ihrer eigenen Spezies und verfolgten ungläubig, dass ein Affe die Erdkugel zweimal zu umkreisen hatte, während auf der Erde selbst die eine Hälfte an Hunger und Armut litt.
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Silas stand wieder auf der Veranda und schaute nach Romy. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken, die Arme hingen schlaff auf beiden Seiten des Schaukelstuhls herunter, alles Leben war aus ihr gewichen. Sie war fort und er noch da. Wut, Verzweiflung, Versagen ergriffen ihn abwechslungsweise, er fand sich vor der Backofenuhr wieder – 20:16.
Weshalb hat dieses verfickte Barbiturat nicht gewirkt?
Übelkeit kroch in ihm hoch; er beugte sich übers Klo, würgte, aber nichts kam. Befindlichkeitsstörung, Warnsignal, Medulla oblongata und weitere Begriffe verstopften seine Gedanken. Verfickt – wann hatte er das zum letzten Mal gedacht? Ihm kam nur der Augenblick in den Sinn, als ihnen die Diagnose mitgeteilt worden war. Da hatten sie die Reise nach Südafrika schon geplant – und sie Page 25wussten beide, ohne es auszusprechen, dass es ihre letzte gemeinsame Reise werden würde.
Es war immer Romys Traum gewesen, ferne Länder zu besuchen. Sie interessierte sich für fremde Kulturen, in den letzten Jahren hauptsächlich für afrikanische, und auch Silas reiste gern. Im Gegensatz zu ihr sammelte er aber keine Souvenirs; Besitz anzuhäufen, erfüllte ihn mit Gräuel. Ein Auto, eine Reisetasche, ein Füller genügten ihm. Mehr als ein Domizil sein Eigentum zu nennen, sah er ebenso als Verschwendung von Ressourcen an. Als ein Kollege in der Klinik ihm sein Ferienhaus anbot, erzählte er es – ohne sich etwas dabei zu denken – Romy weiter, und sie war gleich Feuer und Flamme.
Siehst du, jetzt gefällt es dir auch – sagte sie, wenn sie später auf der Veranda saßen. Wir dürfen uns auch mal was leisten! Sie schaute ihn mit ihren forschenden blauen Augen an, so wie früher, wenn sie an den studienfreien Nachmittagen durch die nahen Wälder spaziert waren, Augen, so blau wie zwei Erdbälle.
Bis nach dem letzten Sommer war alles noch normal gewesen. Romys temperamentvolle Art, Gedanken loszuwerden, gehörte für ihn dazu, manchmal wiederholte sie ganze Bündel an Sätzen in anderer Reihenfolge, was sie früher nicht getan hatte, aber dasselbe machte er auch – wer konnte es ihnen verdenken, dass sie in ihrem fortgeschrittenen Page 26Alter nicht mehr so brillante Rhetoriker waren wie zu ihrer Studienzeit. Dennoch konnte er es nicht vermeiden, sich und Romy insgeheim zu beobachten, verdächtig wirkende Symptome zu registrieren und abzuwägen. Bis sie Wörter zu verwechseln begann und eines Tages nicht mehr wusste, dass man der Farbe Rot Rot und der Farbe Blau Blau sagte. Etwas hatte in ihr Beisammensein eingegriffen, war störrisch und lästig wie ein Gast, der nicht gehen wollte, wie ein Geruch, den man nicht aus dem Haus brachte. Und als Romy ihn auf einem alten Foto für seinen besten Studienfreund hielt, krampfte sich sein Herz zusammen.
Romy war bedrückt. Er sah es an ihrem Blick, ihrer Körperhaltung, der Art, wie sie manchmal schwieg. Etwas staute sich in ihrer Seele, reifte und drängte nach außen. Und sie hatte Angst davor. Sie hatte Angst, sich einzugestehen, dass sie sich in Behandlung begeben musste.
Du musst, sagte er, daran führt nichts vorbei.
Vielleicht doch, sagte sie, du weißt, was ich meine – ich könnte sofort – ohne Wenn und Aber – das müsstest du doch verstehen – schnell und sauber – Ihre Stimme zitterte vor diesem plötzlich aufgetauchten Mut, ihre Augen leuchteten. Das war seine Romy. Aber zugleich lehnte sie sich an ihn, war so still und schüchtern, wie er sie nie zuvor erlebt hatte; und an ihren Wimpern blitzten Tränen.
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Über zwanzig Jahre hatten sie immer wieder Zeit im Haus bei den Dünen verbracht, waren von hier aus zu Ausflügen aufgebrochen, manchmal nur durch die nähere Gegend gezogen, bis zum Hafen in der nächsten Stadt gewandert, damit er die Kräne beim Ein- und Ausladen der Schiffe beobachten konnte, während sie geduldig im Schatten von aufgeschichteten Paletten in einem Buch las. Sie winkten den Passagieren der Kreuzfahrtschiffe zu, die von der Reling zurückwinkten und bald Richtung Horizont fortgetragen wurden. Romy hatte Angst, dass sie seekrank werden würde, sie hasste den Wellengang, schon als Kind war ihr schlecht geworden, daher mieden sie es, mit dem Schiff zu reisen – auch wenn Silas ab und zu bedauerte, nie eine längere Schiffsreise gemacht zu haben, länger auf dem Meer gewesen zu sein, am liebsten auf einem Frachtschiff. So zogen sie es vor, weitere Strecken zu fliegen und kürzere mit dem Auto zurückzulegen. Bald, sagten sie, brechen wir auch wieder auf. Und wenige Wochen später packten sie ihre Koffer und schwirrten Richtung Norden oder Süden.
Auch zu den Tests fuhren sie täglich von hier aus, zogen sich danach wieder zurück, stellten sich von Neuem den Tatsachen. Die Resultate ließen bald keine Zweifel mehr übrig: Romy befand sich in einem frühen Stadium von Alzheimer. Eigentlich ein schönes Wort, sagte sie später, ohne seine Bedeutung je nachgeschlagen zu haben. Alzheimer Page 28– klingt, als würde es das Daheimsein im Alter ausdrücken. Ganz annehmbar, findest du nicht?
Im Moment der Diagnose herrschte eine knöcherne Stille. Romy umklammerte seinen Arm; sie sagte nichts, aber ihre Augen verschwanden hinter einem Schleier aus Tränen.
Silas wusste nicht, was er fühlen sollte, und saß einfach nur wie betäubt da; von außen sah es aus, als nehme er die Diagnose und alles, was jetzt auf sie beide, aber vor allem auf Romy, zukommen würde, gefasst hin. Innerlich zog es ihm sämtliche Muskeln zusammen; er hasste den Arzt und dessen ehrliches Bedauern.
Verfickter Quacksalber!, sagte Silas danach ständig, während er das Lenkrad so fest umklammerte, dass seine Knöchel ganz weiß waren.
Meinst du dich selbst?
Silas warf Romy einen flüchtigen Seitenblick zu.
Sie wollte nicht zurück zum Haus bei den Dünen, also fuhren sie herum, am Hafen vorbei und die Küstenstraße entlang, bis sie irgendwann auf einem Parkplatz anhielten, still ausstiegen und aufs Meer schauten.
An der Diagnose gibt es nichts zu rütteln, sagte Romy, bald werde ich leer und leblos sein wie eine Wüste, mein Herz, meine Seele, mein Gedächtnis weggestohlen.
Sie wussten beide, dass sich Alzheimer innerhalb Page 29der nächsten Jahrzehnte kaum würde heilen lassen, dass noch keine nennenswerten Fortschritte