Herr Wunderwelt. Jörg Rehmann

Herr Wunderwelt - Jörg Rehmann


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Beide verschwanden in die obere Etage. Die Station 1 erstreckte sich über Page 12zwei Stockwerke mit verwinkelten, endlosen Fluren. Ich dachte an Albert Einstein. Von wegen nur das All und die Dummheit der Menschen sind unendlich! Nach einer Stunde glaubte ich, die Zimmer vermehrten sich nach dem Prinzip der Zellteilung. Schon das erste Bett, vor dem ich stand, gab mir Rätsel auf. Wie um alles in der Welt löste man das Bettgitter? Gab es einen Schalter? Musste man kräftig schütteln? Ich suchte und probierte. Minutenlang. Mein erster Schweißausbruch. Ich schlich um das Bett und kroch darunter. Vielleicht gab es zwischen Matratze und Bettgestell einen Drücker? Oder konnte man das Bettgitter überhaupt nicht lösen und sollte mit einer einfachen Hebeübung …

      Es klatschte. Eine Ohrfeige von Frau Klinke, 102 Jahre alt. Sie lag im Bett. Ich hatte sie übersehen. Frau Klinke drohte mit den Fäusten. Ohne ihre Ohrfeige hätte ich in der nächsten Minute Kran gespielt. Eine Uhr begann in mir zu ticken. Du bist in der Probezeit!, zischte eine Stimme in mir. Beeil dich! Ich wollte Frau Klinke das Nachthemd ausziehen. Wir zerrten um die Wette.

      »Er kann es nicht!«

      Ich drehte mich um. Frau Salostowitz, die Bettnachbarin, sah mir zu und spielte Kommentatorin.

      »Das schafft er nicht.«

      »Jetzt schafft er’s doch.«

      »Jetzt hat sie ihn.«

      »Jetzt rollt er sie weg.«

      Page 13

      An diesem Morgen hatte mich die Hektik im Griff. Mir blieb keine Zeit für Gerüche, Ekel oder Angst. Wenn ich jetzt versage, werfen sie mich raus. Wenn ich jetzt versage, schlafe ich zwischen Müllkübeln. Wenn ich jetzt versage, wird der Westen so, wie es im Lehrbuch für Staatsbürgerkunde stand. Mir blieb auch keine Zeit zu staunen oder mich zu fragen, warum Frau Korn den Flur entlangschritt, sehr aufrecht, mit bedächtigen, würdevollen Schritten und einem Buch unterm Arm. Immerhin gab es an den Wänden im Flur Ballettstangen. Ab und zu gönnte ich mir dort ein Demi-plié. Und diese Tuben mit den Salben – wofür oder wogegen auch immer – machten sich ganz gut als Mikrofon. Ich zog den Wäschewagen weiter und trällerte Rock and Roll Star von Champagne.

      »Alle fertig?« Die Stationsfrau stand plötzlich vor mir, Kaugummi kauend und reichlich mit Silberschmuck behangen.

      »Fast«, brachte ich über die Lippen.

      »Neue Aushilfe?«

      »Fest.« Fest klang in diesem Moment wie lebenslänglich.

      »Fast und fest.« Sie prustete los. Für Lady Silverstar war ich eine Eintagsfliege. Durchgeschwitzte Möchtegernis wie mich hatte sie schon oft erlebt. Zu melden hatte ich nichts, und morgen war ich wahrscheinlich weg vom Fenster. Da war es überflüssig, sich vorzustellen.

      »Genau deshalb haben wir dich ins kalte Page 14Wasser geworfen«, erklärte mir Oberpfleger Rolf kurz vor Feierabend. »Hier muss man erst mal allein klarkommen.«

      Und ich kam irgendwie klar. Frau Delbrück bewarf mich zwar mit Stuhlgang, und Frau Strohschneider wollte mich mit Erika-Luxus-Romanen bestechen, damit ich ihren Bronchialtee in den Ausguss schütte. Frau Schliepe fragte mich, ob ich in der Serie Das Erbe der Guldenburgs mitspiele. Als Fiesling.

      Ich beschloss, die Frauen Zauberinnen zu nennen. Sie lachten und schrien, sie schwiegen und schimpften, sie unterrichteten mich. Die Zauberinnen arbeiteten mich ein.

      Frau Wiedermeyer war die geheimnisvollste. Gelähmt von zwei Schlaganfällen, lag sie im Bett und rezitierte Balladen von Chamisso. Angeblich hatte sie einst Adenauer aus der Hand gelesen. Oder war es Bismarck gewesen? Egal. Jetzt war ich an der Reihe. Gespannt hielt ich meine Hand direkt vor ihre Augen. Frau Wiedermeyers Kopf begann zu zittern, und sie dehnte jeden Vokal.

      »Komisch. Überall, wo sonst eine Frau steht, sehe ich bei Ihnen einen Mann.« Welch prophetische Gabe.

      »Sie bleiben sehr, sehr lange hier!«

      Jetzt reichte es aber. Ich drehte mich um und verschwand.

      Auf Station 1 gab es einen Wettbewerb, ein Pflegen gegen die Uhr. Der oder die Langsamste Page 15wurde bei der Dienstübergabe mit Häme übergossen. Ich nicht. Ich wurde zum Turbopfleger. Das zählte. Das untere Stockwerk mit den achtzehn Zauberinnen war bald kein Problem mehr für mich.

      »Du arbeitest wie eine Maschine!«, sagte Oberpfleger Rolf. Das klang für mich wie ein Lob. Den Vogel im Ich-bin-schneller-als-ihr-Spiel schoss ich schon nach wenigen Tagen ab, als ich hinauflief, um Rolf und Gisela zu fragen, ob sie meine Hilfe brauchten. Ich fand sie im Tagesraum. Fünf Zauberinnen saßen dort. Auf dem Tisch lag Schwester Gisela und vögelte mit dem Oberpfleger. Es war 9 Uhr morgens. Ich drehte mich um und hatte nichts gesehen. Ich war in der Probezeit und niemals im Tagesraum gewesen.

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      Als ich vierzehn war, gewann Anett Pötzsch bei den Olympischen Winterspielen in Lake Placid im Eiskunstlauf die Goldmedaille. Ihrer Trainerin Jutta Müller schrieb ich einen Brief und erwähnte mein Alter. Ich wollte Eiskunstläufer werden und war zu alt für die Kreuzspirale und den dreifachen Rittberger. Sonst hätte Jutta Müller mir geantwortet und mich zum Probetraining nach Karl-Marx-Stadt eingeladen. Ich blieb in Schkopau und beschloss: Wenn schon kein Sieg bei den Olympischen Winterspielen, dann bei der Russischolympiade. In der siebten Klasse kannte ich sämtliche Vokabellisten im Russischlehrbuch für das Abitur auswendig. Die Vokabeln der Lehrbücher von der siebten bis zur zwölften Klasse wurden meine Mantras. Sechs, sieben, acht Mal am Tag leierte ich sie herunter. Ich wurde meine eigene Jutta Müller, spornte mich an, zeterte und lobte. An die Wände des Kachelofens im Kinderzimmer kritzelte ich mit Kreide meine Resultate und das Lernprogramm für den nächsten Tag. Natürlich genügten keine Vokabeln, um die Russischolympiade zu gewinnen. Im zweiten DDR-Fernsehprogramm sah ich Für Freunde der russischen Sprache, Filme aus der Sowjetunion mit deutschen Untertiteln. Meine Mitschüler lasen Bravo, ich Po Swjetu und Sowjetfrau. Frau Besenkraut, unsere Russischlehrerin, lieh mir ein Tonbandgerät und Bänder mit Texten Page 17zum Übersetzen. Ich wollte siegen. Um jeden Preis. Kam ich aus der Schule, begann das Training. Mindestens bis Mitternacht lernte ich. Wenn mein Kopf schmerzte, ging ich auf dem Friedhof spazieren. Hier versuchte mich niemand in Gespräche zu verwickeln. Ich brauchte Ruhe und Kraft für die nächste Trainingseinheit. Ich roch nicht den Gestank aus den Schloten des Buna-Kombinats. Ich sah auch keine schlohweißen Bäume, an denen Karbidstaub klebte. Ich träumte von der Kreisrussischolympiade, der Bezirksrussischolympiade, der DDR-Russischolympiade. Die internationale Russischolympiade in Moskau sollte mein Lake Placid werden.

      Die Schulrussischolympiade war nur der Probelauf, um meinen Trainingsstand zu überprüfen. Drei Unterrichtsräume in der Wladimir-Iljitsch-Lenin-Oberschule hießen an diesem Nachmittag Stationen. In jeder Station erwartete mich eine Russischlehrerin.

      Ich betrat Station 1, selbstverständlich im FDJ-Hemd, grüßte auf Russisch und nahm Platz. Ein Monolog war fällig. Frau Krieg lächelte mir zu. Ich sollte berichten, wie sich die FDJler meiner Klasse auf den Geburtstag Ernst Thälmanns vorbereiten. Ich konnte mir ausrechnen, was sie hören wollte. In jedem Jahr gab es irgendwelche Jubiläen, im letzten Jahr war unsere Republik dreißig Jahre alt geworden, in diesem hatte ich auf den soundsovielten Jahrestag des Siegs der Sowjetarmee Page 18gesetzt. Aber halb so schlimm – für alle möglichen Jahrestage hatte ich Texte auswendig gelernt. Ich rasselte meine Sätze herunter. Volle Punktzahl und Zusatzpunkt für meine Aussprache.

      Station 2: Dialog! Frau Besenkraut stellte mir Fragen wie »Hast du einen Freund in der Sowjetunion?« oder »Welchen Beitrag leistest du zur Erfüllung der Beschlüsse des neunten Parteitages?« Ich bot zehn kleine Sequenzen, die ich mir zurechtgelegt hatte. Da ich auch hier nur fünfzehn Minuten verweilen durfte – anschließend läutete die Schulklingel, und ich hatte die Station zu verlassen –, musste ich mich kurz fassen, durch Originalität bestechen und in möglichst jeden Satz eine Vokabel, die im Russischunterricht noch nicht aufgetaucht war, unterbringen. Bei der DDR-Olympiade würde ich hier eins draufsetzen, aus meiner


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