Herr Wunderwelt. Jörg Rehmann
Herr ließ sich sieben Tennisbälle in den Arsch stecken. Rita nannte ihn Boris Becker. Und dann war da noch Monsieur Nasenstein, den sie mit Popeln beschnipste. Ich fragte mich, was daran so dramatisch sein sollte, wenn die Zauberinnen in der Residenz den Weg zur Toilette nicht fanden oder ihre Nachthemden zerrissen. Und warum Rita mich bedauerte, weil ich dort arbeitete. Ihre Freundinnen waren die Nutten der Frobenstraße. Auch sie hatten Mitleid mit mir. Sie ließen sich auspeitschen und froren nachts auf der Straße. Kunden schikanierten und bedrohten sie. Aber für sie schien selbst das erträglicher zu sein als ein Frühdienst in der Residenz.
Rita träumte von einem steinreichen Kunden, der sie heiraten würde. Bevor sie abends loszog, schob sie eine Kassette in den Videorekorder. Sie stellte sich vor den Spiegel, mit dem Kerzenständer in der Hand, und spielte Marlene Dietrich. Rita ging nie zum Arzt. Ihre Schuppenflechte überschminkte sie, und ich klaute in der Residenz Balneum-Hermal-Waschlotion und Tramaltropfen, Page 26als sie Zahnschmerzen bekam. Damals entdeckte ich, dass die Residenz und ganz Westberlin Selbstbedienungsläden waren. Ich lief durch die Stadt und klaute. In einer Buchhandlung in Schmargendorf ließ ich bei jedem Besuch einen Gedichtband mitgehen, bis das Regal leer war. Jean Genet und Henry Miller, damals meine Hausgötter, hätten mir dafür die Wange getätschelt. Auch in Kaufhäusern interessierten mich Bücher, vor allem die eingeschweißten Hardcoverausgaben. Die winzigen Metallstreifen auf den Bücherrücken kümmerten mich so wenig wie die lästige Sirene, die immer dann losjaulte, wenn ich Karstadt, Hertie oder Wertheim verließ.
Als Rita mich bat, in der Residenz sterile Kanülen mitgehen zu lassen, entdeckte ich die Einstichstellen und Hämatome auf ihrer Haut. Ich schüttelte den Kopf. Dann fehlte Geld in meinem Portemonnaie. Und ich fand die fristlose Kündigung des Vermieters im Briefkasten. Rita hatte seit Monaten keine Miete gezahlt.
Die ausgemergelte Gestalt, die ich zwanzig Jahre später am Kottbusser Tor sehen würde, durfte Rita nicht sein. Sie würde am Eingang des Kaiser’s Supermarktes stehen, meinem Blick ausweichen und noch immer das knatschrote Jäckchen tragen, in das ich mich vor meinem Vorstellungsgespräch in der Residenz gezwängt hatte.
»Wenn du Oberpfleger bist, heirate ich dich«, hatte sie einmal gesagt.
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Jeden Mittwoch, 8 Uhr, ging ich zur Besprechung mit Herrn Pfeiler, dem Direktor der Lenin-Oberschule. Dafür stand ich gern eine Stunde früher auf. Herr Pfeiler nahm sich jede Woche für die Freie Deutsche Jugend Zeit. Ich war der Sekretär unserer FDJ-Grundorganisation. Jeden Mittwoch sollte ich Herrn Pfeiler berichten, worüber in den Klassen gesprochen wurde. Darauf war ich stolz. Die Stunde bei Herrn Pfeiler war mein Beitrag, um die Kampfkraft unserer Republik zu stärken. Überall lauerten Feinde. Überall betrieb die imperialistische Konterrevolution ihre Maulwurfstätigkeit. Auch in der Lenin-Oberschule in Schkopau. Als ich in die siebte Klasse ging, schrie ich bei den Fahnenappellen Schüler aus der zehnten Klasse an, die zum FDJ-Hemd Westjeans trugen. Wer sich diese Unverschämtheit beim Appell leistete und das Gesicht zur Ich-kau-lieber-Kaugummi-Fresse verzog, musste damit rechnen, dass ich ihn vortreten ließ und zur Rechenschaft zog.
Eines Tages besuchte der Botschafter Ägyptens die Lenin-Oberschule. Ich trug eine Rede vor, die Herr Pfeiler verfasst hatte. Ich ließ mir Zeit, senkte die Stimme kurz vor dem Satzende und sagte Sätze wie: »Alle Kinder in der Deutschen Demokratischen Republik lieben den Frieden.« Der Botschafter versuchte zu lächeln, während ich sprach. Er schenkte mir ein Medaillon mit dem Page 28Konterfei Kleopatras und erwiderte meine Rede mit dem Satz, dass auch die Kinder in Ägypten den Frieden lieben. Das war gelogen. Im Neuen Deutschland hatte ich etwas anderes gelesen. Ägypten machte seit dem Camp-David-Abkommen gemeinsame Sache mit Israel, dem zionistischen Aggressor. »Das stimmt nicht!«, rief ich dem Botschafter zu, ehe ich eilig zur Seite gedrängt wurde und Herr Pfeiler sich wortreich entschuldigte. Herr Pfeiler tadelte mich am nächsten Mittwoch. Potenzielle Bündnispartner wie Ägypten dürfe man niemals verprellen, und ich solle endlich lernen, mich taktisch klüger zu verhalten.
Seit dem sechsten Schuljahr saß ich mittwochmorgens bei Herrn Pfeiler und musste berichten. Aber woher sollte ich wissen, worüber in den Klassen 9b, 10a oder 7c gesprochen wurde? Ich erfand ein paar Gesprächsthemen und zählte politische Ereignisse auf. Das Kriegsrecht in der Volksrepublik Polen. Die Sowjetarmee befreit Afghanistan. Der NATO-Doppelbeschluss macht Westeuropa zur atomaren Startrampe.
Herr Pfeiler hatte gesagt, dass ich mich in den Schulpausen neben die Kirchlis stellen soll. Die Kirchlis musste man im Auge behalten. Auf dem Schulhof wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Ich galt als rotes Arschloch. Jeder neue Schultag bedeutete Klassenkampf. Wichtig war, sich nicht beirren zu lassen. Das dachte ich auch, als ich den Scheißhaufen entdeckte, den mir Page 29jemand in meine Schultasche gesteckt hatte. Es gab nicht viele Kirchlis in der Lenin-Oberschule. Jeder wusste, wer in Schkopau zur Jungen Gemeinde ging – aus meiner Klasse nur Barbara Pappauf mit den dünnen geflochtenen Zöpfen. Ich nannte sie Barbara Kaulquappe. Barbara Kaulquappe hatte vier Geschwister, wollte Pudelfriseuse werden und sprach am liebsten über ihre gesammelten Kaugummibilder. Ich behielt sie im Auge, aus sicherer Entfernung. Auf Gespräche über Kaugummibilder wollte ich mich nicht einlassen. Wer ging heutzutage noch in die Kirche? Meine Großmutter! Das war mir peinlich. Ich besuchte Oma Olga nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. An ihrem Geburtstag, zu Weihnachten, und einmal im Jahr schippte ich einen Berg Kohlebriketts in ihren Keller. Oma Olga lebte seit der Flucht aus Niederschlesien in ihrer eigenen Welt. An den Wänden ihrer winzigen, dunklen Wohnung in Merseburg-Nord hingen riesige Marienporträts, Jesuskreuze und Erst-wenn-du-in-der-Fremdebist-weißt-du-wie-schön-die-Heimat-ist-Sprüche. Oma Olga stand morgens nicht vor zehn Uhr auf. Sie sprach mit hartem, wasserpolnischem Dialekt über Schlegenberg, als wäre sie gerade eben noch dort gewesen, und über Gott. Sie war ein Überbleibsel aus der Zeit des Kapitalismus. Ich schämte mich, eine Großmutter zu haben, der es schnurzpiepe war, dass sie seit Jahrzehnten in einem sozialistischen Land leben durfte.
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Schwester Rotraud arbeitete seit achtundzwanzig Jahren auf Station. Das erfuhr ich im ersten Satz, den sie mir hinwarf. Es war mein erster Nachtdienst im Irmgard-Breugel-Haus. Schwester Rotraud bereitete um 22 Uhr die Kaffeemaschine für den Frühdienst vor, damit sie morgens nur den Knopf drücken musste. Dann spritzte sie Flüssigseife in die Waschschüsseln, stellte sie vor die Zimmertüren und meinte, damit morgens viel Zeit zu sparen. Sie hatte nachts fünfzehn Zauberinnen zu waschen. Benutztes Inkontinenzmaterial formte sie zu kubischen Plastiken. Als hätte sie soeben ein Werk erschaffen, von dem sie, die Künstlerin, sich nur ungern trennen wollte, ließ sie immer erst nach einem Augenblick der Andacht die Unikate im Müllsack verschwinden. Ansonsten war Marschtempo angesagt. Und Kommandoton. Auf dem Weg zur Toilette packte sie die Zauberinnen fest am Nacken.
»Die können alle. Die wollen bloß nicht.«
Ich sah, hörte und schwieg. Mein erster Nachtdienst überbot alles, was ich bisher erlebt hatte. Führte Schwester Rotraud eine Show für mich auf? Sollte ich sehen, dass sie die Zauberinnen im Griff hatte? Oder sprach sie tatsächlich, Nacht für Nacht, mit ihnen in diesem Ton? Warum arbeitete sie nicht im Zirkus, als Dompteuse in der Raubtiernummer? Ausgerechnet Schwester Rotraud Page 31mochte mich. Weil ich schon um 5 Uhr morgens zum Frühdienst erschien – manchmal floh ich vor Rita und ihren Kunden – und ihr zuhörte. Nach sechs Frühdiensten hatte ich sechs Mal vernommen, dass Schwester Rotraud in ihren achtundzwanzig Dienstjahren schon viele hatte kommen und gehen sehen und früher alle hier morgens drei Tropfen Haloperidol bekommen hatten.
»Da waren sie artiger.«
Erschien ich erst um 6 Uhr zum Frühdienst, zog Schwester Rotraud einen Schmollmund. Aber ich hatte meinen Kredit bei ihr deshalb nicht ganz verspielt. Ihr Dienst dauerte bis 6:30 Uhr, und so blieb ihr immer noch eine halbe Stunde, um Geschichten über ihre Pudel loszuwerden. Schwester Rotraud nutzte die Zeit der Dienstübergabe, um für Hundehalsbänder mit Rubinimitaten, für Haarschleifen und Frolic zu schwärmen.
Die Dienstübergabe war zwei Wörter lang.
»War