Herr Wunderwelt. Jörg Rehmann

Herr Wunderwelt - Jörg Rehmann


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zu arbeiten!« Frau Bühling hatte Recht. Wer brauchte mich in der Villa, heute Nacht, jetzt? Heute war Samstag, und in Schöneberg im New Action tobte das schwule Leben. Ich verschloss die Villa, ging zur Haltestelle und fuhr mit dem Nachtbus zum Wittenbergplatz. Im New Action stand ich herum. Die Pornofilme auf den Monitoren störten mich. Es stank nach Bier und Pisse. Mit einer Flasche Page 60Incidinspray hätte man den Laden durchaus aufwerten können. Ich langweilte mich mehr als in der Residenz. Morgen früh würde alles auffliegen. Fristlos gekündigt wegen rektaler Auswärtsspiele. Im New Action nüchtern herumzustehen war so aufregend wie eine Teambesprechung unter Leitung der Äbtissin. Gegen vier Uhr kehrte ich in die Villa zurück, duschte, trank eine Kanne Kaffee und eröffnete die Waschstraße.

      Mein Ausflug blieb unentdeckt. Von nun an übernahm ich an den Wochenenden gern den Nachtdienst. Nach Mitternacht versank ich im schwulen Bermudadreieck zwischen Nollendorf- und Wittenbergplatz. Eines Nachts sah ich dort Gregor. Ich erkannte ihn sofort. Seine Augen verrieten ihn. Ein Mann mit Mädchenaugen. Später sagte mir Gregor, mein Blick habe ihm Angst gemacht.

      Es war eine laue Sommernacht, und vor Toms Bar standen Grüppchen schwuler Männer. Gregor stand allein, wie ich. Wenn mir damals, Anfang der neunziger Jahre, etwas panische Angst einflößen konnte, dann der wachsende Rechtsradikalismus in Deutschland. Die brennenden Asylantenheime, die Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien, rechte Aufkleber an Straßenlaternen paralysierten mich. Ich las alles, was ich über Rechtsradikalismus in Zeitungen und Buchhandlungen finden konnte. Oft hatte ich geträumt, von Neonazis zusammengeschlagen zu werden. Ich wusste, wer vor mir stand. Gregor Fönzke, Chef der Nationalen Page 61Alternative in Dresden. Ich ging auf ihn zu und sprach ihn an. In dieser Nacht log er mir das Blaue vom Himmel herunter. Er nannte sich William und erfand eine abstruse Biografie, einen Kauderwelsch aus Ich-bin-Kanadier-studiere-Slawistik-in-Moskau-Berlin-ist-nur-eine-Zwischenstation-just-for-fun. So stellte ich mir einen Mann von Welt vor. Kanada! Moskau! Berlin just for fun! Und ich? Irmgard-Breugel-Haus, Station 4. Gregor war ein hochintelligenter, gesprächiger Mann, der mich zum Abschied küsste. Wir tauschten unsere Telefonnummern.

      »Ich heiße nicht William«, sagte er, drehte sich um und ging. Ich war einem Nazi auf den Leim gegangen. Das war die Strafe für meine nächtlichen Streifzüge. Hätte ich doch lieber Staub im Schwesternzimmer gewischt. Jeder Fluse hätte ich mich widmen können. Mit Rechtsradikalen wollte ich nichts zu tun haben. Ich wollte nur Bücher über sie lesen oder sie in Filmen sehen. Mehr nicht. In der Villa hörte ich es röcheln und rascheln, husten und schnarchen. Türen knarrten. Dann hörte ich die Stille. Dann die Angst. Die Angst lief hier umher. Sie absolvierte ihre Rundgänge und spähte in jedes Zimmer. Manche Zauberinnen lagerte sie und gab ihnen zu trinken. Ihre Kürzel fehlten zwar in den Trinkprotokollen und Lagerungsplänen. Aber ich wusste genau, dass ich die Zauberinnen in einer anderen Position gelagert hatte, ehe ich ins New Action gefahren war. Die Trinkbecher hatte Page 62ich aufgefüllt, jetzt waren sie halb leer. In der Villa ging es nicht mit rechten Dingen zu. Auf dem Fensterbrett hatte die Angst die Mirfulansalbe liegen lassen. Und den Materialwagen hätte sie ruhig mal auffüllen können. Die Angst war eine Schlampe.

      Draußen läutete es. Das durfte nicht wahr sein. Gregor Fönzke war mir gefolgt. Ich beschloss, das Klingeln zu ignorieren. Es klingelte wieder. Ich lief im Schwesternzimmer auf und ab. Gott sei Dank gab es eine Gegensprechanlage.

      »Was ist denn?« fragte ich betont gelangweilt.

      Der Wachschutz teilte mir mit, dass ich die Fahrstuhltür mal wieder nicht abgeschlossen hatte.

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      Sonntags radelte ich zu Oma Martha nach Freienfelde. Sie wartete entweder am Fenster oder unten vor dem Schuppen auf mich, voller Ungeduld, weil ich erst jetzt kam. Immerhin war es schon kurz nach zehn. Gnade mir, wenn ich sie an einem Wochenende nicht besuchte. Dann wurde ich am nächsten Sonntag mindestens eine Stunde lang mit bitterbösen, eiskalten Blicken bestraft. Spätestens dann aber löste sich alles Böse auf, und Oma Martha strahlte. Ich war da. Ich liebte meine Großmutter, und sie liebte mich abgöttisch.

      Freienfelde war nur einen Kilometer von Schkopau entfernt, ein Einsprengsel inmitten von Feldparzellen, Vorgärten und neben der riesigen Jauchegrube. Für mich sah die Jauchegrube aus wie der Amazonas, in Scheiße getaucht. Für mich war Freienfelde Exotik pur. Oma Marthas Wohnung mochte kleiner, enger und dunkler als unsere in Schkopau sein. Doch sie war das Paradies. Nach meiner Ankunft dort hatte ich zuerst meine Sonntagsaufgabe zu erfüllen: Die Dekoration des Regals in der Wohnküche über dem Chaiselongue, das Oma Martha Scheeselonk nannte. Ich wischte Staub und dekorierte neu: Zwei leere Kaffeedosen von Dallmayr, vier Bücher (Die Mutter von Gorki, Wie der Stahl gehärtet wurde von Ostrowski, ihr Poesiealbum von 1923 und Courths-Mahlers Bettelprinzess, bevor ich es mitgehen ließ), zwei Page 64Sparbüchsen, gefüllt mit Ein- und Zweimarkstücken und eine winzige, rosa Dose aus Baststroh. Oma Martha belohnte mich mit Geld aus der Sparbüchse, einem Teller voller Mon Cherie, Haribo und Schoko-Crossies und einem Gläschen Eckes Edelkirsch. Dann war Trampolinzeit. Ich sprang auf dem Scheeselonk herum. Oma Martha ließ mich hüpfen und fragte mir Löcher in den Bauch. Sie wollte alles wissen. Wichtig war, jede Urkunde mitzubringen. Und das Zeugnis. Am Nachmittag würde Oma Martha mit dem Zeugnis oder der Urkunde durch Freienfelde spazieren und sie den Nachbarn zeigen. Aber jetzt noch nicht, jetzt tobte ich erst einmal, sprang vom Tisch, rannte ins Schlafzimmer, warf mich aufs Bett, spähte ins Wohnzimmer, welchen Kuchen sie für heute Nachmittag gebacken hatte. Einmal rührte Oma Martha zwanzig Eier in den Teig.

      Alles war erlaubt. Tabu waren nur die Nähmaschine und die Schaumstoffkissen, die auf sämtlichen Stühlen und Sesseln ihrer Wohnung lagen. Das war die ökologische Erfindung meiner Großmutter: Wer zu Besuch kam und sich setzte, plättete, ohne es zu wissen, ihre Schlüpfer und Unterhemden, die darunter lagen. Ich lachte darüber, genauso wie über den Fliegenfänger, die eklige Kleberolle über dem Esstisch, an der lauter tote Insekten baumelten. Ich tanzte, tobte, schwebte, hüpfte weiter und lugte sogar in das winzige Klo, ob die Flaschen mit der köstlichen Vita-Cola Page 65bereit standen. Bei Oma Marta durfte ich sogar auf dem Klo Vita-Cola trinken. Meine Traumtänzerei wurde erst durch Oma Marthas brummiges »Essen« beendet. Zu Mittag gab es riesige Portionen Dosenchampignons oder Möhren mit Petersilie, in Butter geschwenkt, dazu Kartoffeln und oft eine gebratene Schweinelende. Meine Großmutter sparte Strom, davon war sie besessen, sie heizte auch an glühenden Sommertagen mit Kohle und ließ die toten Fliegen ein Jahr lang am Klebeband baumeln, weil Fliegenfänger viel zu viel Geld kosteten. Ihre jahrzehntealten Hausschuhe flickte sie mit Pflaster, das sie mit schwarzer Schuhcreme bemalte. Sie hießen Modell Berchdes Katner. Den Namen hatte Oma Martha erfunden. Mit den Berchdes Katner lief sie durch Freienfelde, und ihr war schnurzpiepe, ob jemand die schwarzgecremten Pflaster entdeckte. Beim Essen aber war nach den Jahren des Hungers und der Lebensmittelmarken die absolute Völlerei angesagt. Wir aßen und ließen uns auf das Scheeselonk fallen, kauten Simagel-Tabletten und schlummerten ein Stündchen. Dann räumten wir eilig das Geschirr ab. Abgewaschen wurde erst am Abend. Wir mussten uns sputen, weil mit der 15-Uhr-Straßenbahn Tante Anna, ihre Schwester, aus Leuna zum Mensch-ärgere-dich-Spielen und Oberhofer-Bauernmarkt-gucken kam. Oma Martha wollte mir vorher noch unbedingt etwas im Garten zeigen oder mir eine neue Geschichte über Frau Tomkowiak, ihre Nachbarin, erzählen. Frau Page 66Tomkowiak hatte für ihre vierzigjährige Tochter Maria eine Hollywoodschaukel gekauft und in ihren Garten, direkt neben den Misthaufen meiner Großmutter, gestellt. Maria stolzierte am Sonntag im giftgrünen Bikini und auf Pantoletten aus dem Haus, warf sich auf die Hollywoodschaukel und hielt sich demonstrativ die Nase zu. Immer wieder verlangte Frau Tomkowiak, Oma Martha solle eine Flasche Tosca auf den Misthaufen schütten. Aber der Misthaufen war zuerst da gewesen. Oma Martha verteidigte ihr Revier und beschloss, nachts immer mal einen Eimer Jauche aus dem Freienfelder Amazonas auf ihren Haufen zu schütten, damit es ordentlich stank. Manchmal blieb ich das ganze Wochenende bei ihr, und wir schlichen nachts zur Jauchegrube und kicherten. Das war eines unserer Geheimnisse.

      Ihre Nachbarschaft war für mich ein Kuriositätenkabinett. Im Block vor ihr wohnte die lahme Schmidt, die in den Courths-Mahler-Romanen aus Omas Leihbücherei nicht richtig durchblickte, im hinteren Gretchen, die an ihrem Geburtstag im Konsum am Bäckerplatz erwischt worden


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