Die Lichtstein-Saga 3: Fineas. Nadine Erdmann
dem äußeren Ringweg, der einmal um den Marktplatz herumführte, und stoppten an einer der Gassen, die in den Ostteil der Stadt und zu Mattes’ Schmiede führte.
»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Kaelan leise an Zoe und Liv gewandt. »Viel Glück und seid vorsichtig. Wir sehen uns morgen auf dem Eichenhof.«
Liv nickte und merkte, wie ihre Nervosität noch mal deutlich anstieg.
»Kriegen wir hin«, meinte Zoe dagegen leichthin. »Ich wette, Liv und ich sind sogar eher dort als ihr.« Sie grinste frech.
»Herausforderung angenommen.« Kaelan grinste zurück.
Noah suchte Livs Blick. »Passt gut auf euch auf.« Gern hätte er ihre Hand genommen oder – noch besser – sie zum Abschied geküsst, aber das wäre zu auffällig gewesen. Offiziell trennten sich ihre Wege ja nur kurz, weil jeder in einen anderen Laden ging.
»Das Gleiche gilt für euch.« Liv schenkte ihm ein kleines Lächeln – und jetzt wollte er sie definitiv küssen. Trotzdem hielt er sich heldenhaft zurück.
Ari sah sich unauffällig um. »Wir sollten weitergehen, bevor sich irgendwer wundert.«
Kaelan nickte. »Mistwetter«, sagte er dann lauter als zuvor. »Ich wette, Ari, Noah und ich sind vor euch zurück am Kloster!«
»Wette angenommen!«, gab Zoe sofort zurück. »Los komm, Liv, mit dem Karren haben sie gegen uns keine Chance!« Damit packte sie Liv am Arm und die beiden rannten los.
»Dafür verquatschen wir uns bei unseren Einkäufen nicht mit jedem zweiten, der uns begegnet!«, rief Noah ihnen hinterher.
Liv und Zoe ignorierten ihn geflissentlich und eilten weiter die Ringstraße entlang bis zu der Gasse, die sie zu Bettys Nähstube führte. Ein helles Glöckchenklimpern ertönte, als die beiden durch die Tür traten. Im Laden war es warm und gemütlich. Wegen der frühen Schlechtwetterdämmerung brannten Öllampen und in einem kleinen Ofen prasselte ein Feuer, das eine Teekanne und zwei Tassen warmhielt.
»Hallo Betty, hallo Otto«, grüßte Zoe.
»Hallo ihr zwei.« Betty war um die siebzig, klein und schmal, mit grauen Haaren, die sie zu einem Knoten gebunden am Hinterkopf trug. Sie lächelte ihnen entgegen, genauso wie ihr Mann, der an einem der Regale verschiedene Rollen mit Nähgarn sortierte.
»Ein fürchterliches Wetter haben wir da draußen, nicht wahr?«, meinte er. »Gestern noch so heiß und heute ist es so kalt wie im Herbst. Kommt herein und wärmt euch kurz auf.«
»Vielen Dank.« Zoe streifte ihre Kapuze vom Kopf. Liv tat es ihr gleich.
»Oh, das ist doch selbstverständlich«, winkte Betty ab. »Kommt mit nach hinten ins Lager, da ist es schön warm und da habe ich auch die Stoffe fürs Kloster.« Eifrig schlurfte sie zu einer Tür, die in den hinteren Bereich der Nähstube führte. »Otto wird in der Zwischenzeit den Laden hüten.«
Der alte Mann hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte. »Ja, geht nur, ich halte hier die Stellung.«
Liv und Zoe folgten Betty. Das Lager war dämmrig und eng und eigentlich bloß ein schlauchartiger Gang, der vom Ladenlokal zu einer weiteren Tür führte. Regale mit dicken Stoffballen, sortiert nach Farben und Arten der Stoffe, ragten rechts und links bis hoch zur Decke. Betty durchquerte den Gang zielstrebig und öffnete die Tür an dessen Ende.
»Kommt rein. Stina wartet schon.«
Hinter der Tür lag die Wohnstube des Ehepaars. Die eine Hälfte diente als Küche mit Holzofen, Spüle, einer Anrichte, Regalen, auf denen sich Geschirr ordentlich stapelte, und einem Esstisch mit vier Stühlen. In der anderen Hälfte lag die Wohnecke mit einem kleinen Sofa, einer Vitrine voller Bücher und einem Kamin, vor dem ein Schaukelstuhl und ein alter Ohrensessel standen. Im Sessel saß ein Mädchen und hatte gelesen, doch als Liv und Zoe die Stube betraten, sprang es sofort auf.
»Da seid ihr ja. Hallo«, grüßte sie die beiden.
»Hey Stina.« Zoe trat zu ihr und die beiden umarmten sich kurz. Wie Zoe war Stina eine Novizin in der Garde und die beiden kannten sich vom gemeinsamen Unterricht in Gesetzeskunde und vom Training in Bogenschießen, Schwertkampf und Selbstverteidigung. Zoe hatte Stina als Livs Doppelgängerin vorgeschlagen, als Ignatius ihnen zum ersten Mal von ihrem geplanten Täuschungsmanöver erzählt hatte.
»Hallo«, grüßte auch Liv und fand es ziemlich schräg, ihrer Doppelgängerin gegenüberzustehen. Stina war etwas größer als sie und im Gegensatz zu Liv musste sie bereits achtzehn sein, denn erst mit der Volljährigkeit durfte man der Garde beitreten. Wie Liv war Stina eher klein für ihr Alter, ihre langen Haare waren genauso straßenköterblond und sie hatte sie wie ausgemacht mit ein paar Lederbändern im Nacken zurückgebunden. Ihre Gesichter waren beide schmal und sie hatten Stupsnasen, ansonsten ähnelten sie sich allerdings nur grob und ihre Augenfarben stimmten gar nicht: Livs waren braun, Stinas blau. Aber diese Unterschiede würden sicher niemandem auffallen, der sie bloß aus weiterer Entfernung sah.
Stina grinste. »Freut mich, dich kennenzulernen.« Sie zog auch Liv in eine kurze Umarmung, schob sie dann von sich und musterte sie von oben bis unten. »Also ich denke, die Täuschung müsste funktionieren.«
Liv grinste zurück. »Ja, das denke ich auch. Vielen Dank, dass du dich bereit erklärt hast, uns zu helfen.«
Aber Stina winkte bloß ab. »Hallo? Das ist doch selbstverständlich. Ich will ganz sicher nicht, dass sich in unserer Heimat irgendwelche Kreaturen der Finsternis breitmachen. Also müssen wir Konstantin aufhalten, und wenn ich dabei helfen kann, indem ich mich als deine Doppelgängerin ausgeben, bin ich auf jeden Fall sofort dabei.«
Liv lächelte. »Trotzdem danke.«
»Wir sollten uns beeilen«, drängte Zoe. »Wenn wir zu viel Zeit vertrödeln, wird womöglich noch jemand misstrauisch, wenn man uns gefolgt ist. Also los.«
Liv zog ihre nasse Lederjacke aus, dann auch Hose und Stiefel, die ähnlich durchnässt waren, und tauschte sie gegen Stinas trockene Kleidungsstücke, während Stina in Livs nasse Klamotten schlüpfte. Betty war derweilen mit den Worten »Ich hole euch die Stoffe fürs Kloster« zurück ins Lager verschwunden.
»Zeit für den Abschied.« Zoe drückte Liv kurz an sich. »Ich finde dich, sobald wir morgen weit genug von Burgedal entfernt sind.«
Für den ersten Wegabschnitt war Liv am nächsten Tag auf sich gestellt und musste sich zum ersten Mal allein außerhalb der Stadtmauern zurechtfinden. »Wäre cool. Aber keine Sorge, wenn nicht, ist es auch okay«, versicherte sie. Ignatius und Ben hatten ihr den Weg auf der Karte gezeigt und er war leicht einzuprägen gewesen. »Dann sehen wir uns auf dem Eichenhof.«
»Definitiv.«
»Danke noch mal – auch wenn du es nicht hören willst«, sagte Liv, als sie sich auch von Stina verabschiedete.
Die schnitt ihr eine Grimasse und sie umarmten sich kurz. Dann zog Stina sich die nasse Kapuze über den Kopf und verschwand im Lager.
»Wir sehen uns!« Zoe winkte Liv noch einmal zu und folgte Stina.
Im Lagerraum drückte Betty ihr ein dickes Bündel aus verschiedenen Stoffbahnen in den Arm, das sie in ein wasserabweisendes Tuch eingeschlagen hatte. »Das ist die Ware fürs Kloster.«
»Danke dir.«
Die drei gingen zurück in den Verkaufsraum, der abgesehen von Otto, der noch immer Garnrollen sortierte, leer war. Er sah von seiner Arbeit auf und lächelte ihnen verschwörerisch zu. »Grüßt mir Ignatius. Und passt gut auf euch auf.«
Betty ging zur Tür und hielt sie den beiden Mädchen auf. »Grüße an alle und seht zu, dass ihr bei dem Regen schnell ins Kloster zurückkommt.«
Zoe zog ihre Kapuze über. »Machen wir. Und danke für alles!«
Betty zwinkerte vielsagend. »Ich hoffe, die Stoffe gefallen Helen und Marta.«
»Mit Sicherheit.« Zoe grinste. Dann stieß sie Stina an. »Los komm, auf