Die Wahlverwandtschaften. Johann Wolfgang von Goethe
nicht aus diesen Erlebnissen heraus interpretiert werden kann, so klingen sie doch darin nach, und in der Gestalt der Ottilie finden sich Züge der geliebten Frauen. Goethe selber wies im Gespräch mit Eckermann auf den biografischen Bezug hin, indem er sagte, „dass darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden“ sei.
Ein Jahr nach dem Erscheinen der Wahlverwandtschaften gestaltete Goethe den Themenkreis Ehe, Liebe und Entsagung nochmals auf derbere Art in dem Gedicht Das Tagebuch.
Der Roman markiert den Übergang hin zu Goethes Alterswerk. Er lässt sich keiner literarischen Epoche eindeutig zuordnen. Einzelne Motive, vor allem die Unerbittlichkeit, mit der das Schicksal die Protagonisten in die Tragödie führt, stellen einen Rückgriff auf die griechische Tragödie und damit auf die Weimarer Klassik dar.
Standbild der heiligen Ottilie auf dem Odilienberg
Dagegen sind die mystischen Elemente, die vor allem Ottilie umgeben (ihre Handschrift gleicht sich der Eduards an (1,12), das Gehen über eine Kohlenlagerstätte verursacht ihr Kopfschmerzen (2,11), mehrere Personen fühlen sich von ihr unwillkürlich angezogen) ein Merkmal der Romantik, der Goethe eigentlich ablehnend gegenüberstand. Gleiches gilt für den zum Ende des Romans hin immer stärker thematisierten Katholizismus, bis hin zu den Schlussworten: „[…] und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.“ Dies wurde von der Kritik als Übernahme aus der Romantik, zum Teil aber auch als Kritik und Parodie der romantischen Literatur ausgelegt.
Der Romantitel verweist auf Goethes Beschäftigung mit den Naturwissenschaften. Der Begriff ‚Wahlverwandtschaften‘ ist der Chemie der Zeit entlehnt. Er beschreibt einen Vorgang, der eintreten kann, wenn zwei chemische Verbindungen zusammentreffen. Bei ausreichend starker Affinität lösen sich die Bestandteile dieser Verbindungen voneinander, um sich mit einem freigewordenen Partner der anderen Verbindung aufs Neue zu vereinigen. Im vierten Kapitel des ersten Teils diskutieren Eduard, Charlotte und der Hauptmann diesen Sachverhalt und übertragen ihn scherzend auf ihre eigene Situation. Damit verweisen sie darauf, dass auch der Titel im übertragenen Sinn zu verstehen ist: Der Roman untersucht, inwieweit seine vier Hauptpersonen aufgrund naturgesetzlicher Notwendigkeiten oder aus freien Willensentscheidungen heraus handeln. Die aus heutiger Sicht etwas gewaltsam erscheinende Verbindung von Chemie mit den menschlichen Verhaltensweisen erklärt sich zum einen aus dem damaligen Stand der Wissenschaft, die zwischen Chemie und Alchemie noch nicht klar unterschied, zum anderen aus Goethes persönlicher Weltsicht. Er war überzeugt, dass alle Erscheinungen der belebten Natur miteinander in Verbindung stünden.
Nach Goethes Aussage war der Roman das einzige größere Werk, das er „nach Darstellung einer durchgreifenden Idee“ gearbeitet habe. Entsprechend weisen Die Wahlverwandtschaften ein hohes Maß an Gestaltungsdichte und formaler Konstruktion auf. Thomas Mann lobte ihn als „ein Wunderding an Geglücktheit und Reinheit der Komposition, an Reichtum der Beziehungen, Verknüpftheit, Geschlossenheit.“
Tempel des Amor. Auf einem Steinhügel in einem griechischen Holztempel stand früher das gusseiserne Standbild. Der geflügelte Liebesgott schwingt zwei Sanduhren in den Händen. Die rätselhafte Darstellung deutet der Spruch auf einer Steinplatte darunter. Die Inschrift folgt dem Epigramm "Zeitmaß" von Johann Wolfgang von Goethe.
Der Roman ist durchzogen von einem Netz von Symbolen und Verweisen. Als Beispiele aus der Fülle der Symbole seien die Platanen am See genannt, seit alters Symbol des Einsseins von Leben und Tod, die das Geschehen begleiten: Eduard hat sie am Tag von Ottilies Geburt gepflanzt, bei den Platanen gestehen Charlotte und der Hauptmann sich ihre Liebe (I,12), hier betrachten Eduard und Ottilie gemeinsam das „rauschende blitzende Entstehen und Verschwinden“ des Feuerwerks (seinerseits ein Symbol für Eduards Leidenschaft) (I,15), gegenüber den Platanen lässt Ottilie das Kind in den See fallen (II,14). Der von Eduard geschenkte Koffer, den Ottilie erst auspackt, als ihr Todesentschluss feststeht (II,18), wird in unterschiedlichen Bezügen als Symbol der sexuellen Liebeserfüllung und -verweigerung genutzt. Symbolhaft für die Verbundenheit der Figuren stehen ihre Namen.
Denn nicht nur der Hauptmann, auch Eduard heißt in Wirklichkeit Otto (I,3), die Silbe ‚ott‘ ist sowohl in ‚Charlotte‘ als auch in ‚Ottilie‘ enthalten, und folgerichtig wird auch das Kind nach seinen vier Eltern Otto genannt – dagegen bleiben die meisten übrigen Personen namenlos und werden mit ihren Berufen oder Titeln bezeichnet (der Gehülfe, der Graf, die Baronesse, der Architekt, der Geistliche, bei Mittler fallen Name und Beruf zusammen).
An zahlreichen Stellen verweist der Roman in verschlüsselter Form auf später stattfindende Ereignisse. So wird Ottilies Hungertod bereits im dritten Kapitel des ersten Teils vorbereitet, als auf „ihre große Mäßigkeit im Essen und Trinken“ hingewiesen wird. Dieser Hinweis wird später noch einmal wiederholt (I,6); in Kapitel II,16 lehnt sie das Frühstück ab. Voller Verweise steckt das zentrale Kapitel I,4. Im Gespräche nehmen Eduard, Charlotte und der Hauptmann hier, ohne es selbst zu wissen, die spätere Entwicklung vorweg. So beschließt man, „Geräte zur Rettung der Ertrunkenen“ anzuschaffen, da „bei der Nähe so mancher Teiche, Gewässer und Wasserwerke, öfters ein und der andere Unfall dieser Art vorkam.“ Auch möchte Charlotte „alles Schädliche, alles Tödliche“ aus dem Haushalt entfernen, denn „die Bleiglasur der Töpferwaren, der Grünspan kupferner Gefäße hatte ihr schon manche Sorge gemacht.“ Anschließend übertragen die Diskutanten die chemischen Wahlverwandtschaften auf sich selbst und ahnen nicht, wie nah sie damit der künftigen Wirklichkeit kommen. „[…] die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken“, sagt Eduard, worauf Charlotte sich über das „traurige Wort“ beklagt, „das man leider in der Welt jetzt so oft hört.“ „Gelegenheit macht Verhältnisse“, meint sie und fährt fort: „[…] sind sie [die chemischen Stoffe] aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott!“ Schließlich führt das Gespräch zu dem Entschluss, Ottilie einzuladen. Damit wird Charlottes ursprüngliche fürsorgliche Absicht in ihr Gegenteil verkehrt, ist doch mit Ottilies Ankunft der Weg in die Tragödie bereitet. Verweise dieser Art erschließen sich nur demjenigen Leser, der die spätere Entwicklung bereits kennt. Deshalb empfahl Goethe, den Roman mehrmals zu lesen, denn es stehe darin mehr, „als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen im Stande wäre“.
Als Parallelgeschichte ist die Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder in den Roman eingefügt (II,10). Sie bietet eine Lösungsmöglichkeit für das Wahlverwandtschaften-Problem an, deren Märchenhaftigkeit darauf hinweist, dass eine Lösung des Konflikts in der Realität nicht möglich ist.
Die Romanhandlung wird von einem allwissenden Erzähler vorgetragen, der das Geschehen ebenso wie die Gefühle und Gedanken der Personen wiedergibt und kommentiert. Er bedient sich dazu einer „Sprache von äußerster Präzision und Klarheit, die durch souveräne Überschau und Weltkenntnis gesichert zu sein scheint.“ Das Romangeschehen berichtet er aus einer Distanz, die ihn von den tragischen Verwicklungen und dem Leid der Personen unberührt bleiben lässt; er notiert seine Beobachtungen sachlich-nüchtern wie ein auf Erkenntnis bedachter Wissenschaftler.
Schon der erste Satz des Romans: „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter […]“ macht deutlich, dass die Person Eduard reine Erfindung ist. Der Erzähler gibt nicht vor, ein reales Geschehen mitzuteilen. Vielmehr präsentiert sich die Romanhandlung als Protokoll eines gedanklichen Experiments, die Menschen darin erweisen sich als „[…] Symbole, ebenmäßig angeordnete und durcheinander bewegte Schachfiguren einer hohen Gedankenpartie.“
Exakte Zeitangaben werden im Roman fast völlig vermieden. Lediglich der erste Satz informiert den Leser, dass das Geschehen im April einsetzt. Nur an den Veränderungen der Natur und den wiederkehrenden Festen lässt sich ablesen, dass die Handlung sich über eineinhalb Jahre bis zum Herbst des Folgejahres erstreckt. Äußere Ereignisse, die eine zeitliche Einordnung ermöglichen würden, finden nur einmal Erwähnung: Es herrscht Krieg. Jedoch bleibt ungesagt, in welchen der Koalitionskriege