Mörderklima. Stefan Schweizer
verstand, zum Kern der Sache vorzudringen. Er nahm einen Schluck Wein und balancierte das edle Rebengewächs im Mund, damit die Aromen-Intensität zur Entfaltung kommen konnte.
Der Aufsatz für ein angesehenes Fachjournal mit hohem Impact-Faktor erwies sich als Herkules-Aufgabe, hatten sich schon die Vorarbeiten als mühsam erwiesen. Er musste schließlich alles selbst erledigen, da er weder über eine Sekretärin noch über Mitarbeiter oder studentische Hilfskräfte verfügte. Doch Herausforderungen wie diese gaben ihm eine tiefe innere Befriedigung. Da er alles alleine auf die Beine stellte, hatte er die Gewissheit, dass alles passte, sauber erarbeitet war und jedem kritischen Blick standhielt. Seine wissenschaftliche Reputation bedeutete ihm viel, und es gab nur eine Sache, der er noch mehr Bedeutung zumaß …
Wenn nur dieser knifflige Anfang nicht wäre. Sobald dieser gelungen war, würde sich der Rest von selbst schreiben, dessen war er sicher. Beethovens Fünfte ertönte leise, bis sie schließlich laut vernehmbar war – das Telefon!
Er warf einen Blick auf die mit einem silbernen Armband und blauem Gehäuse versehene Patek Philippe. Kurz vor 22.00 Uhr. Wer konnte das sein? Eine Kollegin oder ein Kollege? Um diese Uhrzeit eher unwahrscheinlich. Eine Studierende, die fachlich weder ein noch aus wusste oder ihm ihr Herz ausschütten wollte? Wäre nicht das erste Mal. Trotz seiner hehren wissenschaftlichen Aura und seines mitunter distanziert-spröden Umgangs mit Studierenden außerhalb des Hörsaals, übte er aufgrund seines Aussehens und Charismas eine nicht zu unterschätzende Faszination auf die weibliche Hörerschaft aus. Oder war es Tabea? Aber sie hatten vereinbart, dass sie sich erst meldete, wenn sie wieder zurückgekehrt war …
Er eilte über die sachte knirschenden Holzbohlen zum Festnetzanschluss, der aus dem letzten Jahrtausend zu stammen schien.
„Georg Graf von Gleiwitz“, meldete er sich mit einer angenehm klingenden, tiefen Stimme, die nichts von der Spannung Preis gab, wer am anderen Ende der Leitung zu erwarten war.
Einen Augenblick lang herrschte Stille im Äther. Dann vernahm er leises, aber aufgeregtes Schnaufen.
„Georg?“
Die weibliche Stimme kam ihm trotz der schlechten Verbindung bekannt vor.
„Georg, bist du das?“
Er war nicht sicher, wem die Stimme gehörte. Bevor er den Fehler machte, sich mit einer Studentin auf Du und Du zu stellen, fragte er lieber nach.
„Frieda“, wurde er aufgeklärt.
Frieda? Wenn er doch nur drauf käme … Frieda? War das die kleine, ein wenig abwesend wirkende Blondine, die ihn immer mit offenem Mund und dumpfen, wässrigen blauen Augen aus der ersten Reihe anstarrte, während er sich über die schwierigsten Fragen der Menschheits- und Kulturgeschichte erging?
Nein …
„Von Fritsch.“
Frieda von Fritsch! Aber klar! Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Eine seiner Mitstreiterinnen vor unzähligen Jahren. Gemeinsam waren sie aufgebrochen, um die Welt der Wissenschaft im Sturm zu erobern und nun hatte sie die Realität eingeholt und ihnen die allzu glänzenden Illusionen geraubt.
„Ich muss mit dir reden, Georg!“
Die Worte waren schwer zu verstehen und Georg wusste nicht recht, ob es an der schlechten Verbindung lag oder ob Frieda zu aufgeregt war, um deutlich zu sprechen. Dem stünde ja nichts im Wege, gab er sich zurückhaltend.
Doch Frieda hauchte ein gepresstes „dringend, persönlich und unter vier Augen“ in den Hörer.
„Hat das nicht noch ein wenig Zeit?“, versuchte er sich ein wenig Luft zu verschaffen. „Kommende Woche würde es mir am Wochenende gut passen.“
Friedas Entgegnung war eindeutig: „Sofort! Ich bin einem Skandal auf der Spur, der die Wissenschaft in ihren Grundfesten erschüttern wird.“
3.6. Oktober 2020, nahe Bremerhaven
Es fiel ihr nicht leicht, die steilen Treppen hochzusteigen, was sich an ihrer heftigen Atmung zeigte. Sie spürte jeden einzelnen Chips, von den unzähligen Schokoladeneisen ganz zu schweigen, die sie abends gerne vor dem Fernseher genoss, während sie Filme über die Natur und Tiere oder noch lieber Lifestyle-Sendungen anschaute und Menschen bewunderte, mit denen sie nie Kontakt haben würde. Aber sie konnte ohne diese kleinen Schwächen einfach nicht sein. Denn dann wäre ihr Leben gänzlich ohne Freude und damit sinn- und zwecklos. Schon traurig, wenn es so weit mit einem gekommen war, aber diese kleinen Sünden gaben ihr Kraft und Energie, die Strapazen des Alltags auszuhalten. Die Metallstufen ragten hoch in ein dunkles Nichts und der Steigungswinkel war abenteuerlich. Sie keuchte und schnaufte wie eine alte Dampflokomotive. So etwas konnte nicht einmal Fitness-Freaks Spaß machen, von Schreibtischtäterinnen wie ihr ganz zu schweigen. Die Beleuchtung war spärlich – hier musste der Prototyp ohne Frage noch optimiert werden, wenn er für soziale Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen sollte. Wenn das kein Anlass war zu beschließen, mehr auf ihr Gewicht zu achten und Sport zu treiben, dann würde es einen solchen nicht mehr geben. Aber immerhin hatte die dumme Kuh hinter ihr auch ihre Probleme mit den schwierigen Rahmenbedingungen. Wenn man so dämlich war, für dieses Abenteuer moderne, pinke Stiefeletten mit gewagten Absätzen anzuziehen, konnte einem nicht geholfen werden. Oder? Sie hörte, wie diese fiese Pseudo-Lesbe, die ihr Coming-Out noch vor sich hatte, immer wieder in den quadratischen Hohlräumen der Leiter hängenblieb. Ha, das geschah ihr recht und vielleicht sollte sie anregen, dass in den nächsten Expertenbericht eingefügt wurde, die Treppen sollten für alle Altersklassen und jeden Modestil passen, damit die Bevölkerung möglichst keinen Stein des Anstoßes fand. Dennoch beunruhigte sie die Vorstellung, was dieses von Hass erfüllte Weib von ihr wollte. Berufliche Vernichtung? Im Ernst? Oder billige Rache für früher? Das war doch wohl nichts als ein schlechter Scherz. Sie versuchte lediglich, sie aus dem Konzept zu bringen. Natürlich gab es unbefristete und vor allem besser bezahlte Jobs, aber bei ihrem Posten saß sie sicher im Sattel. Da gab es kein Wenn und Aber … Und was war, wenn …? Jetzt schnürte es ihr die Kehle zu und sie keuchte ein wenig mehr als ohnehin schon. Denn genau genommen war ihr Beruf ihr ein und alles. Sie besaß sonst nichts, denn … Etwas anderes gab es im Moment nicht in ihrem Leben und von einem emsigen gesellschaftlichen Leben war sie Lichtjahre entfernt. Wenn man einmal von ihren drei Katzen absah. Ihren Babys. Aber die halfen im Zweifel beim Verlust der Arbeit nicht weiter – abgesehen vom abendlichen Kuscheln, aber das nur, wenn sie in Stimmung waren, die blöden Viecher. Und wenn sie ihren Job einmal verloren hatte, war sie geliefert. Dann war es Schluss, aus und vorbei. Wer nahm sie in ihrem Alter? Wo sollte sie unterkommen? Welcher Art von Arbeit sollte sie mit ihrer spezifischen Überqualifikation nachgehen? Nein, Toiletten würde sie bestimmt nicht putzen. Und Regale auffüllen, nur damit sie nicht durch das sogenannte soziale Netz fiel, kam auch nicht in Frage. Wenn sie sich umdrehte und plötzlich fallen ließ, dann würde dieser Strich in der Landschaft wie ein Papierblatt umfallen und die Treppen hinunterpurzeln. Wenn es dumm lief, brach sie sich dabei das Genick. Das wäre nicht unpraktisch. Oder? Aber vielleicht war es besser, sich erst einmal anzuhören, was die Hexe ihr mitteilen wollte. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sie viel Wirbel um nichts machte und sich alles als heiße Luft entpuppte …
Als sie oben angekommen waren, atmete sie tief durch. Die dürre Schlampe mit dem Nervenschaden schaute sich nervös um. Die schlecht gesicherte Plattform auf dem Windrad schien ihr Angst einzujagen. Oder war es lediglich die Vorfreude auf das, was sie ihr mitteilen wollte? Die Seile zur Absicherung waren ein Witz. Wenn sie jetzt auf ihre Allzeit-Konkurrentin stürzte, dann war diese Geschichte. Für immer.
„Schöne Aussicht hier oben, aber beschissenes Wetter“, brach sie die Stille. „Und dafür hast du dir die Schuhe ruiniert.“
Die Spitze saß. Das Gesicht des Klappergestells verlor die Contenance. Ihr lächerliches Modebewusstsein war nach wie vor ein wunder Punkt … Zeit herauszufinden, was Sache war. Ihr fehlte schlichtweg die Phantasie sich vorzustellen, was Schlimmes kommen sollte.
„Wofür sind wir hier hinauf geklettert? Und was hast du mir zu sagen?“, fragte sie, während es sie Anstrengung kostete, sie nicht an den