Mörderklima. Stefan Schweizer
Blick zeigte Resignation und sie tat Georg beinahe leid. Er wünschte sich, subtiler vorgegangen zu sein.
„Das habe ich so nicht gesagt“, versuchte er zu besänftigen. „Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen, um morgen noch einmal in aller Ruhe die Dinge bei rechtem Lichte zu betrachten.“
Er kam sich vor wie eine Schallplatte mit Sprung. Energisch schüttelte sie den Kopf.
„Ich fass‘ es nicht, Georg. Wir kennen uns schon so lange. Und jetzt glaubst du mir kein Wort und denkst, dass ich durchgeknallt sei.“
Ihre blauen Augen funkelten vor Energie und Leben. Sie strahlten Überzeugung und Aufrichtigkeit aus.
„Jetzt beruhige dich …“
Angewidert schüttelte sie den Kopf.
„Ich soll mich beruhigen? Du warst meine einzige Hoffnung. Ich habe dir vertraut. Und jetzt das.“
Die letzten Worte klangen wie ein bitterer Vorwurf. Dann herrschte gespanntes Schweigen.
„Wahrscheinlich steckst du mit Sommer unter einer Decke. Das würde ich dir nach dem heutigen Abend zutrauen. Damit du einen ordentlichen Ruf kriegst, tust du alles.“
Ein offener Schlag ins Gesicht. Georg wurde zornig, was selten vorkam. Aber das hier war ein Vorwurf, der ihn traf, da er an das Innerste seines Wesens rührte. Er atmete tief durch, um sich seine immense Erregung nicht anmerken zu lassen. Dann räusperte er sich und versuchte, seine Stimme so kontrolliert wie möglich klingen zu lassen.
„Was du da sagst, ist schlichtweg unerhört. Das ist völlig inakzeptabel! Auch wenn es von dir kommt.“
Er holte tief Luft, um fortzufahren
„Ich würde mir eher meine rechte Hand abhacken, als meine wissenschaftlichen und menschlichen Überzeugungen zu verraten. Und unter der Decke stecke ich erst recht mit niemandem. Ich erwarte eine Entschuldigung von dir!“
Es herrschte Schweigen. Denn Frieda war nicht bereit, einen Deut nachzugeben.
Die Zeit verflog, wie immer, wenn er einem spannenden Rätsel auf der Spur war. Ein Uhr! Unheilvoll klang der Glockenschlag von der vergoldeten Standuhr herüber.
Frieda sah immer noch wie ein bockiges Kind aus. Ihre Unterlippe hatte sie trotzig vorgeschoben. Die Mimik war wie versteinert. Die blauen Augen funkelten gefährlich.
Georg wünschte sich Frieden und Ruhe. Aber zugleich war er angeturnt – das alles war zu rätselhaft und mysteriös.
„Du glaubst, ich lüge?“
Friedas Stimme klang scharf und verbittert. Seine Unschuldsbekundung hatte die Situation keineswegs verbessert.
Georg hörte ihrer Tirade nur mit einem Ohr zu. Er ließ die Litanei geduldig über sich ergehen. Was anderes hätte bei diesem Wortsturm keinen Sinn gemacht.
Schließlich wandte er ein: Beweise.
„Die werde ich dir liefern“, schrie Frieda, stampfte mit dem Fuß auf, drehte sich um, verließ das Zimmer und schloss die Türe mit einem lauten Knall.
Georg blieb wie angewurzelt in dem gemütlichen Ledersessel sitzen, in den er sich zwischenzeitlich gesetzt hatte. Wie hypnotisiert betrachtete er die linke abgewetzte Stelle auf der Höhe des Ellbogens. Die Sessel waren in die Jahre gekommen. Und obwohl sie bequem waren und einen edlen Charme ausstrahlten, gehörten sie erneuert. Eindeutig. Aber auch in dieser Sache waren ihm die Hände durch den eigenartigen Mietvertrag mit seinem Großonkel gebunden. Er war in dieser Villa ein Gefangener unabänderlicher Bedingungen, die Segen und Fluch zugleich waren.
Von draußen hörte er Frieda hysterisch fluchen und schreien. Sie schwor ihm, dass er den Tag bereuen würde, an dem er ihr nicht geglaubt hatte. Georg seufzte. Ihr Temperament hatte ihn schon immer zugleich fasziniert und abgestoßen.
Schnellen Schrittes eilte er ihr nach, um … Ja, um was eigentlich zu tun? Aber es war zu spät. Die massive Naturholztüre stand offen. Draußen regnete es in Strömen und der Sturm hatte zugenommen. Georg blickte in die Finsternis aus Garten, Bäumen und Sträuchern. Nur hier und da waren in der Auffahrt einige Laternen an, deren Licht aber für das Grundstück nicht annähernd ausreichend waren. Obwohl Georg das Anwesen von Kindesbeinen an kannte, fühlte er sich manchmal einsam und verlassen. In Nächten wie diesen wirkte es beinahe unheimlich auf ihn. Und das bedeutete schon etwas bei einer Person wie ihm, die sich viel auf ihren kühlen Verstand und ihre durch und durch rationale Lebensweise zu Gute hielt.
5.10. Oktober 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt
Die Mail kündete sich unaufgeregt mit einem technokratischen „Pling“ an. Ein Geräusch, das inzwischen beinahe so vertraut war wie das eigene Atmen. Als Georg den Betreff las, traute er seinen Augen nicht. Kurzzeitig entzog es ihm den Boden unter den Füßen.
Beerdigung Frieda
Die unheilvolle Ankündigung traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Unerbittlich, knallhart und schwer zu verdauen. Bevor er weiterlesen konnte, musste er schlucken. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, er stellte den Blick scharf und las.
Hallo Georg,
leider haben wir lange schon nichts mehr voneinander gehört. Vermutlich sind wir beide beschäftigter, als uns lieb ist. Aber die Wissenschaft duldet nun mal keinen Aufschub und verlangt unsere volle Hingabe
Aber nun zu etwas Ernstem. Leider habe ich keine guten Nachrichten. Mehr oder weniger durch Zufall habe ich erfahren, dass unsere alte Studienfreundin Frieda durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen ist. Du weißt ja, wie das ist: einmal Wissenschaft, immer Wissenschaft und die Community ist dann doch nicht so riesig, dass schlechte Nachrichten einen nicht erreichen würden. Du machst dir gar keinen Begriff davon, wie schockiert ich war, als ich die Nachricht erfahren habe, aber dir wird es jetzt vermutlich auch nicht viel anders ergehen. Da reißt es einen von uns – du kannst dich ja sicherlich noch daran erinnern, was für eine verschworene Gemeinschaft wir waren – aus der Mitte des Lebens. Unsere Frieda (wenn ich mich recht entsinne, warst du ja mal mit ihr kurzfristig zusammen oder es hatte zumindest den Anschein …) ist auf der Plattform einer Windkraftanlage schwer verunglückt. Der Sturz aus über 100 Metern Höhe war tödlich. Ehrlich gesagt kommt mir das reichlich seltsam vor, da die Plattform zumindest provisorisch gesichert war. Und unsere Frieda neigte nie zum Grüblerischen, sodass ich von einem Unfall ausgehe. Sie würde sich doch nie im Leben etwas angetan haben, oder? Ich meine, man steckt im Anderen nicht drin und weiß nicht, wie sich jemand entwickelt. Aber bei Frieda kann ich mir so etwas unter keinen Umständen vorstellen. Und du? Hattest du in letzter Zeit Kontakt mit ihr? Ich vermute eher nicht, da wir uns ja alle aus den Augen verloren haben und nur durch Auszeichnungen, Berufungen, Todesfälle usw. voneinander hören. Anscheinend haben sogar die Staatsanwaltschaft und Kripo in Friedas Fall ermittelt, aber sie konnten wohl keinerlei Anzeichen für Fremdeinwirkung feststellen. Die Beerdigung findet am Dienstag, den 20. Oktober …
Den Rest der Mail mit einigen salbungsvollen, Trost spendenden Worten nahm Georg nur noch wie im Traum wahr. Das gab es doch gar nicht! Warum? Wieso? Wozu? Auf seine Fragen fand er keine Antworten. Er stützte seinen Kopf behutsam mit der rechten Hand ab. Seine Frieda! Ihm wurde richtig weh ums Herz, wenn er daran dachte, wie er sie mit ihrem obskur klingenden Verdacht von sich gewiesen hatte. Er vergegenwärtigte sich ihre tiefe menschliche Enttäuschung. Wie sie im Unfrieden auseinandergegangen waren, weil er zu langsam gewesen war, und sie nicht mehr hatte einholen können.
Und jetzt solch eine tödlich verlaufende Katastrophe. Tod durch einen Unfall? Selbstmord? Ihn ärgerte seine überlegene Arroganz, die er ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte à la „Sommer und ein wissenschaftlicher oder menschlicher Skandal? Undenkbar. Punkt.“ Umso mehr schmerzte ihn nun die Erinnerung an die Vehemenz, mit der sie ihm gegenüber ihre Anschuldigungen vorgetragen hatte. Auch körperlich. Ihre Hände hatten sich wie scharfe Krallen in