Mörderklima. Stefan Schweizer

Mörderklima - Stefan Schweizer


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keine Sekunde mehr verstreichen lassen wollte, ohne dass es endlich zur Sache kam. Was ihr Angst machte, denn lieber würde sie in ein Kloster gehen, als sich mit diesem geistigen Dünnbrettbohrer einzulassen, den sie sowohl optisch als auch menschlich abstoßend fand. Vor Schreck rutschte ihr beinahe das Herz in die Hose, als sie spürte, wie sich nun sein starker Arm um ihren Rücken legte, und er sie zu sich zu ziehen versuchte. Sie setzte ihre nicht unbeachtliche Masse ein, um dem zu widerstehen, was gar nicht so einfach war, da sich sein Muskeltraining wohl auszahlte.

      „Was ist denn? Können wir das berufliche Ratespiel endlich mal hinter uns lassen? Du hast doch auf dem Dating-Portal geschrieben, dass du eine offene Person bist und dass du starke Arme zum Anlehnen benötigst. Dass du neue Erfahrungen suchst, wobei du in dieser Sache bei mir genau richtig bist.“

      Sein linker Arm wanderte unaufhaltsam Richtung ihres großen rechten Busens. Nun kam zu dem in Techno-Beat-Geschwindigkeit wummernden Herzen auch noch hinzu, dass ihr schlecht wurde. Richtig schlecht. Der Wein stieß ihr auf und am liebsten hätte sie sich aus der Situation weggebeamt.

      „Dein schnell schlagendes Herz verrät mir, dass du es doch auch willst“, betätigte Markus seine poetische Ader, wirkte dabei aber wie ein Fitnesskaufmann, der einer Oma an den Geräten weismachen wollte, dass sie wie Jane Fonda in ihren besten Jahren war.

      Er zog sie jetzt mit beinahe brachialer Gewalt an sich heran und versuchte, ihr seine Zunge in den Hals zu stecken. Mit großer Kraftanstrengung stieß sie ihn von sich.

      „Das verstehe ich nicht“, jammerte er. „Dabei stehe ich genau auf Frauen wie dich. Gut gebaut, alles dran, wie es sein sollte, sehr fraulich …“

      Dieser Typ log auch noch, ohne rot zu werden. Wenn sie nur an Frieda dachte, war ihr klar, dass Markus alles mitnahm, was nur ging, und wohl jeder seiner neuen Eroberungen das Blaue vom Himmel versprach.

      „Mir geht es nicht gut!“, behauptete Barbara und bemühte sich, ein glaubhaft klingendes Würgen vorzutäuschen.

      „Das ist die Erregung!“, konterte Markus. „Das geht allen so …“

      „Nein, mir geht es gar nicht gut“, wiederholte Barbara und nutzte den Moment aus, denn der Doktorand hatte sie für eine Sekunde aus seiner Umklammerung freigegeben, was ihr ein blitzschnelles Aufstehen ermöglichte.

      Schnellen Schrittes ging sie zur Türe. Sie hörte, dass auch Markus aufstand und beschleunigte ihren Schritt. Wenn er sie einholte, war sie geliefert. Ein Albtraum, diese Situation, in den diese alte Schlampe sie gebracht hatte. Jetzt musste sie sich beinahe tatsächlich übergeben, da sie sich bildlich vorstellte, wie die beiden …

      „Ich gehe mich kurz frisch machen“, spielte sie ihre Trumpfkarte und hörte erleichtert, dass Markus jetzt stehen blieb.

      „Das ist eine ausgezeichnete Idee!“

      Als sie die Zimmertüre hinter sich geschlossen hatte, versuchte sie sich blitzschnell in dem dunklen Flur, der mit eklektisch zusammengestellten Möbeln vom Sperrmüll vollgestellt war, zu orientieren. Ah, dahinten war die Ausgangstüre. Ihre Rettung!

      Als sie sich auf der Schwarenbergstraße befand, stellte sie zufrieden fest, dass viele Menschen auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch unterwegs waren. Eine Vergewaltigung auf offener Straße schien damit ausgeschlossen. Sie atmete tief durch. Dann hörte sie voller Schrecken, wie sich ein Fenster in dem Mehrfamilienhaus aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts öffnete.

      „Komm zurück, du Schlampe, wir sind noch nicht fertig“, hörte sie die sich beinahe überschlagende, lächerlich hohe Stimme. „Du weißt ja gar nicht, was dir alles entgeht, du Flittchen!“

      Ohne sich umzublicken, beschleunigte sie ihre Schritte und ging die serpentinenartige Straße herunter. Selbst aus einiger Entfernung hörte sie noch Wortfetzen wie „multipler Orgasmus“ und „blutige Muschi“. Sie hatte Angst, dass ihr Herz plötzlich aussetzte oder dass sie ohnmächtig wurde. Aber mit letzter Kraft setzte sie verbissen einen Fuß vor den anderen und sah zu, dass sie Land gewann. Es war einfach unglaublich, was sich heutzutage für Typen im hehren Academia herumtrieben.

      Und trotz aller Unannehmlichkeiten hatte sie eine entscheidende Information erhalten. Sie musste sich an Hans-Peter heranmachen. Blieb nur zu hoffen, dass der nicht auch so ein Widerling war.

      8.20. Oktober 2020, Stuttgart, Hauptfriedhof

      Auf dem Stuttgarter Hauptfriedhof herrschte an einer überschaubaren Stelle reger Betrieb. Die gesamte Friedhofsanlage war gepflegt. Auch hier schienen sich die schwäbischen Attribute der Reinlichkeit zu bestätigen. Der Weg zwischen den Gräbern verlief kerzengerade. Eine neu ausgehobene Grube verriet den traurigen Anlass für den Trubel.

      Die Blätter der Bäume hatten sich bereits verfärbt und hier und dort lag bereits etwas Laub am Boden. Ansonsten gab es keinerlei Hinweise darauf, dass es bereits Mitte Herbst war. Ganz im Gegenteil. Die Wetterkapriolen der letzten Wochen setzten sich unbeirrt fort. Denn „Goldener Oktober“ war im Moment eher ein metaphorischer Euphemismus für die knapp unter 30 °C liegende Temperatur und die kräftige Sonne, die mit unerbittlicher Kraft herabschien. Eigentlich, dachte Georg, ist das kein passender Rahmen für eine Beerdigung. Aber, was war schon für eine Beerdigung angemessen? Eine Beerdigung assoziierte er mit schlechtem Wetter – entweder Regen oder mit unerbittlicher Kälte, auch wenn sich dies nicht mit seinen tatsächlichen Erfahrungen deckte. Er schwitzte in dem schwarzen Anzug aus dickem, englischem Stoff, der aus der vornehmen Savile Row in London stammte – ein weiteres Geschenk seines in den Vereinigten Staaten von Amerika lebenden Onkels.

      Trotz der hohen Temperaturen hielt er es für angemessen, Frieda mit feierlicher Kleidung aus diesem Leben zu verabschieden. Jetzt erhielt er die Quittung für seine hehren Absichten. Aber er litt nicht alleine, denn auch andere Trauergäste schwitzten gewaltig, obwohl sie die Wahl ihrer Kleidung an der Wettervorhersage orientiert hatten.

      Georg studierte die Gesichter – die zahlreichen Sonnenbrillen spielten ihm diesbezüglich einen Streich. Er erkannte dennoch Emotionen wie Trauer, Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit, aber auch Gleichgültigkeit. Der Kreis der versammelten Trauergemeinde war überschaubar. Immerhin erkannte er zwei, drei Gesichter aus vergangenen Studientagen. Friedas Eltern waren vor Gram gebeugt. Sie waren aus Hessen angereist. Georg dachte darüber nach, ob es wirklich etwas Schlimmeres geben konnte, als das eigene Kind begraben zu müssen.

      Der übergewichtige – der Herr hat es uns gegeben und meine Frau hat es vorzüglich gekocht! – evangelische Pfarrer spreizte gewichtig seine Arme, wobei die geöffneten Handflächen gen strahlendblauen Himmel zeigten. Er sprach die altbekannten Worte aus der Bibel, denen Georg nur mit einem Ohr folgte. Vielmehr fokussierte er einen besonders feierlichen, imposanten Kranz mit der Aufschrift „In Memoriam Frieda – Prof. Dr. Dr. h.c. Meyer“. Die in noblem Gelb gehaltene Kranzschleife war der Länge nach mit grüner Schrift bedruckt. Georg beschloss, Meyer zu fragen, wieso der Kranz ausschließlich aus roten Rosen bestand, obwohl eine plausible Schlussfolgerung nicht allzu schwierig war. Das war beinahe schon zu auffällig – ganz so, als lege es jemand darauf an. Daneben lag ein Kranz, der von Friedas Fakultät stammte. Auch er enthielt verdächtig viele Rosen, aber nicht ausschließlich rote und zudem noch andere Schnittblumen wie Nelken. Georg wusste, dass Meier der amtierende Dekan von Friedas Fakultät war.

      Meyer befand sich drei Plätze vor ihm in der Schlange, die sich vor dem Grab gebildet hatte. Er war ein großer, athletischer Mann. Georg kannte ihn bereits seit Studienzeiten. Inzwischen war Meyer vom eher schlaksigen Jüngling zu einem ansehnlichen Silberrücken gereift. Eine junge, attraktiv aussehende Frau in einem kurzen und tendenziell zu knapp geschnittenen schwarzen Kleid begleitete ihn. Sommer widmete ihr deutlich mehr Aufmerksamkeit als anderen anwesenden Kolleg*innen, die eher seinem Rang entsprachen. Als Georg an die Reihe kam, nahm er die pittoreske Schaufel und schüttete etwas Erde auf den in der Sonne gleißenden, braunen Sarg. Für eine Sekunde hielt er inne und schloss die Augen.

      „Mach es gut, Frieda“, murmelte er kaum vernehmbar und sandte noch einige Bitten an ein höheres Wesen, von welchem er annahm, dass es Alles aus dem Nichts geschaffen


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