Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser
– oder in Bezug auf etwas, was gut zu sein scheint – dann ist das Ergebnis eine Handlung (E, 553 – 560, 572 f. / OC IV, 571 – 576, 585 f.). Daher gilt ihm, wie wir oben gesehen haben, der Glaube an die Legitimität einer Form der sozialen Ungleichheit, der eine Art Urteil ist, als eine Weise der Zustimmung. Was das Natürliche vom Künstlichen – und auch das rein Tierische vom Menschlichen (DU, 107 / OC III, 141 f.) – unterscheidet, ist im Grunde das Fehlen oder Vorliegen von Freiheit. Eine Welt, die auf irgendeine Weise durch menschliche Freiheit – menschliches Urteil oder menschlichen Willen – verändert worden ist, kann nicht mehr als vollkommen natürlich gelten. Allein der im ersten Teil des Zweiten Diskurses beschriebene ursprüngliche und »hypothetische« (DU, 81 / OC III, 133)22 Naturzustand bildet nach diesem Maßstab eine wahrhaft natürliche Welt, während die im zweiten Teil geschilderte Welt – wo zum ersten Mal Menschen auftauchen – stets in irgendeinem Maße künstlich ist.
Es lohnt sich, auf eine Implikation der beiden Bedeutungen von »natürlich«, wie ich sie gerade ausgeführt habe, aufmerksam zu machen, da sie, sobald wir Rousseaus Kritik der Ungleichheit erörtern werden, sehr bedeutsam wird: Anders als die Leser oft meinen, verwendet Rousseau das Wort »künstlich« in einem normativ neutralen Sinn. Für Rousseau gibt es keinen Grund – sei er begrifflicher oder anderer Art –, dass etwas Künstliches (etwas, das von Meinungen oder Willensakten bestimmt ist) zugleich auch unnatürlich im Sinne von schlecht oder verdorben sein muss.23 Wenn er später die Gesellschaft (und die sie begleitende Leidenschaft, den amour propre) als künstlich bezeichnet, dann geht es ihm nicht darum, dass die Menschen durch ihre Sozialbeziehungen notwendig korrumpiert werden, und auch nicht darum, dass sie ihrer »wahren« oder idealen Natur entfremdet sind. Er will damit vielmehr sagen, dass die Gesellschaft etwas ist, was Menschen machen, und das heißt etwas, das Ergebnis von menschlichem Glauben und Willen ist. Das Wichtige an dem Gedanken, die Gesellschaft sei künstlich, liegt darin, dass reale Menschen zwar nicht ohne Sozialbeziehungen der einen oder anderen Art leben können, die spezifischen Formen dieser Beziehungen in der Realität jedoch äußerst verschieden sind und von vielen Zufallsfaktoren abhängen, zu denen auch der menschliche Wille zählt. Menschen können nicht frei wählen, ob sie innerhalb oder außerhalb der Gesellschaft leben wollen, doch da die Natur uns nicht, wie den Bienen und Ameisen, soziale Einrichtungen vorgegeben hat, ist es an uns zu entscheiden, wie wir unsere Sozialbeziehungen ausgestalten. Auch wenn der Zweite Diskurs für gewöhnlich so gelesen wird, stellt Rousseau sich das menschliche Dasein gerade nicht ohne dauerhafte Sozialbeziehungen vor, sowenig wie er es sich ohne Liebe, Vernunft, Sprache oder den Trieb, von anderen geachtet zu werden (amour propre), vorstellt – all dies ist, wie wir sehen werden, ebenso künstlich wie die Gesellschaft, darum aber für ein gutes Leben der Menschen nicht weniger unerlässlich.
Wenn wir diese beiden Bedeutungen von Natur – die eine als Gegensatz zum Künstlichen, die andere zum Verderbten oder Korrumpierten – im Kopf behalten, dann können wir allmählich verstehen, was es für Rousseau heißt, die Quelle der moralischen Ungleichheit nicht in der Natur des Menschen zu verorten. Dass »Natur des Menschen« genau dieselbe zweifache Bedeutung wie »Natur« im Allgemeineren aufweist, wird uns nicht weiter erstaunen. Da Rousseau annimmt, es gebe wichtige Verbindungen zwischen der normativen und der erklärenden Bedeutung von »Natur des Menschen« – ein Thema, auf das im 3. Kapitel zurückgekommen wird – ist es wohl richtiger zu sagen, er stütze sich auf eine einzige Auffassung von der Natur des Menschen, die aber zwei verwandte Aspekte hat. Für die Logik des Rousseau’schen Arguments bleibt es dennoch wichtig, den normativen vom nicht-normativen Aspekt seiner Auffassung von der Natur des Menschen zu unterscheiden, auch wenn es später genauso wichtig sein wird, die Frage aufzuwerfen, wie die beiden seiner Ansicht nach ineinandergreifen. (Um der sprachlichen Einfachheit willen werde ich mich weiter auf zwei Auffassungen von der Natur des Menschen beziehen, obgleich nicht vergessen werden sollte, dass sie für Rousseau eng miteinander verbunden sind.)
Rousseaus normative Auffassung von der Natur des Menschen erscheint im Zweiten Diskurs hauptsächlich in Verbindung mit seiner Rede von der »Verdorbenheit« und der »Erniedrigung« der Natur des Menschen, welche die im zweiten Teil geschilderten Veränderungen der Menschen und ihrer Gesellschaft begleiten (DU, 81, 243 ff., 125 ff. / OC III, 133, 183 f., 207). Im Emile tritt die normative Bedeutung der Natur des Menschen stärker zutage, vor allem in der Hauptthese des Werkes, die eigentliche Aufgabe der Erziehung bestehe darin, dem Menschen zur Verwirklichung seiner wahren Natur zu verhelfen. Die Auffassung von der Natur des Menschen, die es Rousseau ermöglicht, in beiden Schriften von der Verdorbenheit und Erniedrigung des Menschen zu sprechen, ist insofern normativ, als sie jene Charakterzüge im Einzelnen bestimmt, die Menschen zwar haben sollten, aber oft nicht aufweisen und deren Fehlen gerade das ausmacht, was Rousseau unter einer entwürdigten menschlichen Existenz versteht. Die Erörterung dieser Bedeutung von Natur des Menschen werde ich mir für das 3. Kapitel aufsparen, wo ich Rousseaus nicht-normative Einstellung zur sozialen Ungleichheit rekonstruiere. In diesem Kapitel, in dem es mir um den Ursprung der Ungleichheit geht, werde ich seine beschreibende oder erklärende Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen untersuchen, wie sie in seiner Schilderung des Naturzustands im ersten Teil enthalten ist. Ein Grund, um mit ihr zu beginnen, ist der, dass Rousseaus nicht-normative Auffassung von der Natur des Menschen schwerer zu verstehen ist und typischerweise zu mehr Verwirrung führt als seine vergleichsweise einfache Auffassung von der wahren – oder idealen – Natur des Menschen.
Die nicht-normative Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen
Rousseaus beschreibende oder erklärende Auffassung der ursprünglichen Natur des Menschen legt dar, wie Menschen sind – oder da ich unten behaupten werde, dass der Naturzustand ein hypothetisches Konstrukt ist (DU, 65, 81 / OC III, 123, 133) – wie sie wären, lebten sie in einer vom Künstlichen völlig unberührten Welt, in einer Welt, in der die Natur, unsere eigene – tierische oder biologische – Natur eingeschlossen, von den Auswirkungen menschlicher Eingriffe völlig frei ist. Diese Auffassung werde ich mit Rousseau als ursprüngliche Natur des Menschen bezeichnen (DU, 63, 67 / OC, 122 f., 126), obgleich man nicht vergessen darf, dass diese ursprüngliche Natur, da sie ja von allen Auswirkungen menschlichen Handelns absieht, in wichtigen Hinsichten als menschliche überhaupt nicht erkennbar ist. (Dieser ursprünglichen Natur des Menschen werde ich im 2. Kapitel eine weitere nicht-normative Auffassung von der Natur des Menschen gegenüberstellen, die sich ebenfalls Rousseau zuschreiben lässt und die im wesentlich aus der ursprünglichen Natur des Menschen, ergänzt durch den amour propre, besteht. Ich werde von ihr als der Natur des Menschen im erweiterten Sinne sprechen.) Obwohl noch sehr viel mehr über diese Vorstellung zu sagen sein wird, ist bereits jetzt deutlich, dass Rousseau in seiner Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen die »ursprüngliche Beschaffenheit« des Menschen zu fassen beabsichtigt bzw. wie der Mensch ist, so »wie ihn die Natur geschaffen hat«, unter Absehung dessen, »was die Umstände und seine Fortschritte hinzugefügt oder an seinem ersten Zustand abgeändert haben« (DU, 63 / OC III, 122).
Bevor wir den Inhalt von Rousseaus Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen näher betrachten, müssen wir uns mit einer Interpretationsfrage auseinandersetzen, die unter den Lesern des Zweiten Diskurses zu erheblichen Kontroversen geführt hat und die für die Rekonstruktion und Bewertung der daraus folgenden Position von beträchtlicher Bedeutung ist. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es meiner Ansicht nach entscheidend ist, den im ersten Teil geschilderten Naturzustand als ein hypothetisches Konstrukt zu begreifen und nicht als Beschreibung eines tatsächlichen Zustands, den es irgendwann in unserer fernen Vergangenheit wirklich gegeben hat.24 Ein Grund für diese Interpretation ist der, dass sie dem Zweiten Diskurs philosophisch den meisten Sinn verleiht. Das will heißen, sie stattet das Argument Rousseaus mit mehr Kohärenz und Überzeugungskraft aus als jede andere Lesart. Ein weiterer Grund ist allerdings der, dass Rousseau selbst klar und deutlich sagt – so scheint es mir zumindest –, er wolle den ursprünglichen Naturzustand genau