Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser

Kritik der Ungleichheit - Frederick  Neuhouser


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nicht im »Unterschied des Alters, der Gesundheit, der Körperkraft und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele«, sondern in »den verschiedenen Privilegien, die einige zum Nachteil der andern genießen, wie etwa reicher, angesehener, mächtiger zu sein als andere oder gar Gehorsam von ihnen verlangen zu können« (DU, 77 / OC III, 131). Da »moralisch« für uns nicht mehr dieselbe Bedeutung hat wie für Rousseau10 und »politisch« zu eng ist, um all die Ungleichheiten zu erfassen, die er untersuchen möchte, werde ich von jetzt an den Gegenstand der Untersuchung im Zweiten Diskurs als soziale Ungleichheiten bezeichnen. Ich verwende diesen Ausdruck, um anzuzeigen, dass die zu untersuchenden Ungleichheiten hier sowohl einen sozialen Ursprung haben (in menschlichen »Konventionen«) und ihrer Natur nach sozial sind, insofern sie in den relativen Vorteilen oder Privilegien bestehen, die einige Menschen gegenüber anderen genießen. Der erste der beiden Punkte wird uns den größten Teil dieses Kapitels beschäftigen, doch wenn wir ein deutliches Bild der Arten von Ungleichheiten gewinnen wollen, mit denen sich der Zweite Diskurs beschäftigt, sollten wir auch den zweiten nicht aus dem Blick verlieren.

      Es ist entscheidend, sich zu vergegenwärtigen, dass soziale Ungleichheiten für Rousseau stets Privilegien sind – Vorteile, die einige zum Nachteil anderer genießen – und dass seine üblichen Beispiele Unterschiede hinsichtlich des Reichtums, des Ansehens (oder Prestiges), der Macht (über andere) und der Autorität (die Fähigkeit, anderen zu befehlen und Gehorsam einzufordern) sind. Rousseaus Sprache und Beispiele weisen auf einen Punkt hin, dessen Bedeutung später deutlicher werden wird: Bei den Merkmalen, durch die soziale, im Gegensatz zu natürlichen Ungleichheiten gekennzeichnet sind, handelt es sich um stark relative oder stellungsabhängige Eigenschaften und nicht um »absolute« Qualitäten. Die Stärke von Körper, Geist und Charakter – Unterschiede, welche die natürlichen Ungleichheiten ausmachen – sind Eigenschaften, die Individuen haben können und zu haben wünschen können, ohne sich darum zu kümmern, ob andere weniger, mehr oder auch nur dieselbe Menge davon haben. Beispielsweise ist das Ausmaß der Klugheit einer Person unabhängig davon, wie klug ihre Mitmenschen sind, und die Wünschbarkeit ihrer Klugheit hängt nicht davon ab, ob andere sie besitzen oder nicht. Soziale Ungleichheiten bestehen demgegenüber aus Ungleichgewichten in Qualitäten, bei denen der Faktor Privileg (gegenüber anderen) eine entscheidende Rolle spielt. Man sieht dies leicht im Fall der Autorität: Von jemandem lässt sich nur dann sagen, er habe Autorität, wenn es einen anderen gibt, der ihm gehorchen muss. Autorität ist immer Autorität gegenüber einem anderen, der – in dieser besonderen Hinsicht – keine Autorität hat und daher – in dieser besonderen Hinsicht – »unter« einem anderen steht. Etwas Ähnliches gilt für Macht, jedenfalls solange wir darunter mehr als physische oder geistige Stärke verstehen, denn Ungleichgewichte in dieser zählen zu den natürlichen Ungleichheiten. Ein sozial mächtiges Individuum – eines, das imstande ist, andere so zu manipulieren oder zu zwingen, dass sie seine Wünsche und Ziele ausführen, ist nur insofern mächtig, als es weniger mächtige Individuen gibt, die als Werkzeug seines Willens herhalten müssen. Die Relativität (oder Stellungsabhängigkeit) des Ansehens ist für Rousseaus Genealogie der Ungleichheit von zentraler Bedeutung und wird weiter unten ausführlich erörtert werden. Und schließlich ist das Privileg gegenüber anderen selbst für den Reichtum entscheidend, zumindest wenn wir Adam Smiths berühmter Darlegung über das »wahre Maß« des Reichtums »nach der Arbeitsteilung« folgen: Ein Mensch »ist arm oder reich, je nach der Menge der Arbeit, über die er verfügen oder deren Kauf er sich leisten kann.«11 In all diesen Fällen lässt sich der Besitz eines Gutes – Reichtum, Ansehen, Macht oder Autorität – nicht davon trennen, dass jemand benachteiligt ist, weil ein anderer es besitzt. Die Güter, aus denen der Stoff der sozialen Ungleichheiten gemacht ist, sind solche, die sich nur »zum Nachteil« eines anderen genießen lassen.

      Festzuhalten ist, dass uns Rousseau durch die Definition der ihn beschäftigenden Art von Ungleichheit bereits etwas Wichtiges darüber mitgeteilt hat, wie er die Frage nach deren Ursprung zu beantworten beabsichtigt: Soziale Ungleichheit hat ihren Ursprung nicht in der Natur, wohl aber in den Meinungen und Praktiken, die aus den Tätigkeiten der Menschen entstehen: »Sie ist durch die Zustimmung der Menschen gesetzt oder wenigstens autorisiert worden« (DU, 77 / OC III, 131).12 Und mehr noch: Er hat deutlich gemacht, dass die Natur, so wie er sie begreift, den Gegensatz zum Künstlichen, zur Konvention, Meinung und Zustimmung bildet. Es lohnt sich, ein wenig bei dieser verblüffenden These zu verweilen, denn versteht man sie richtig, enthüllt sich weitgehend, wie Rousseau die Ungleichheit auffasst, deren Ursprung und Legitimität der Zweite Diskurs untersucht. Das Verblüffende dieser These liegt in ihrer Andeutung, die soziale Ungleichheit hänge von der Zustimmung der Menschen ab, vermutlich von der Zustimmung eines jeden, der zu anderen in der Beziehung der Ungleichheit steht. Auf den ersten Blick scheint die These falsch, ja widersinnig zu sein, dass soziale Ungleichheiten, und sei es nur zum Teil, deshalb existierten, weil die Besitzlosen, die Unterdrückten und die Verachteten dem Reichtum, der Macht und dem Ansehen derjenigen zugestimmt haben, die in der sozialen Hierarchie über ihnen stehen. An dieser Stelle ist jedoch entscheidend, welche Worte Rousseau genau verwendet: Die soziale Ungleichheit, heißt es, ist durch die Zustimmung der Menschen »gesetzt oder wenigstens autorisiert worden«. Dass Rousseau die Rede darüber, wie Ungleichheiten entstehen, wie sie zuerst gesetzt werden, durch die Rede darüber ersetzt, wie sie autorisiert werden, sollte uns auf die wichtige Tatsache aufmerksam machen, dass sich der Zweite Diskurs weniger mit dem realen historischen Ursprung der Ungleichheit befasst, als es zunächst den Anschein hat. In Wirklichkeit beschäftigt Rousseau in dieser Aussage vor allem, wie und warum Ungleichheiten, sind sie erst einmal entstanden, sich hartnäckig behaupten. Rousseaus grundlegende These besagt daher nicht, dass soziale Ungleichheiten zuerst durch eine Übereinkunft zwischen den Menschen in die Welt gekommen sind, sie besagt vielmehr, dass, so es sie erst einmal gibt, ihr dauerhafter Bestand von einer Art Zustimmung abhängt, die er als Autorisieren bezeichnet. Dass das Autorisieren für die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten entscheidend ist, beinhaltet, dass es sich bei diesen, im Gegensatz zu jenen, die den »physischen« oder nicht-»moralischen« aus dem Reich der Natur angehören, wesentlich um normative Phänomene handelt. Soziale Ungleichheiten sind in dem Sinn normativ, dass sie in menschliche Praktiken eingebettet sind, deren Bestehen von der Überzeugung ihrer Teilnehmer abhängt, solche Praktiken seien gut, legitim oder natürlich, und das wiederum schließt ein, dass wir für die sozialen Ungleichheiten in einer Weise verantwortlich sind, wie dies nicht auf natürliche Ungleichheiten zutrifft – schließlich sind sie durch unser eigenes Tun bedingt. Zu sagen, soziale Ungleichheiten sind durch Zustimmung autorisiert, bedeutet freilich nicht, dass sie in Wahrheit legitim oder verbindlich sind. Es bedeutet lediglich, dass sie von denen, die ihnen unterworfen sind, für legitim gehalten werden und dass dieses »Autorisieren« eine bedeutsame Rolle für ihren Fortbestand spielt. (Somit ist festzuhalten, dass »Autorisieren« hier einen von der Bedeutung, die es in der zweiten der Hauptfragen des Zweiten Diskurses hat, unterschiedenen Sinn aufweist. Wenn Rousseau dort fragt, ob die soziale Ungleichheit durch das Naturgesetz autorisiert ist, dann fragt er nicht, ob Individuen an ihre Legitimität glauben, sondern ob, ungeachtet der tatsächlichen Meinungen der Menschen, das Naturgesetz sie tatsächlich rechtfertigt.)

      Dieser Punkt rückt einen wichtigen Sinn ins Licht, dem zufolge soziale Ungleichheiten für Rousseau eher moralisch als physisch sind: Die Praktiken und Institutionen, welche soziale Ungleichheiten stützen, verdanken ihren Bestand größtenteils nicht der Gewalt, sondern der (stillschweigenden oder ausdrücklichen) Übereinkunft, dass sie gerechtfertigt sind. Wenn Arbeiter in kapitalistischen Unternehmen Tag ein, Tag aus ihre acht oder mehr Stunden arbeiten, ohne das Eigentum ihrer Arbeitgeber zu sabotieren oder es sich selbst anzueignen, dann tun sie das typischerweise in erster Linie deshalb nicht, weil sie fürchten, die Staatsmacht würde die bestehenden Eigentumsrechte durchsetzen – obwohl man auch nicht vergessen darf, dass diese Macht immer im Hintergrund steht, bereit, die Wenigen zu vernichten, die es wagen könnten, diese Rechte zu verletzen. Sie tun es stattdessen nicht, weil sie, möglicherweise unhinterfragt, auf irgendeiner Ebene die Legitimität oder Natürlichkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen billigen, die sie zwingen, für ihren Lebensunterhalt zu schuften, während andere wohlhabend genug sind, ohne zu arbeiten leben zu können und sich an den Früchten der Arbeit anderer zu bereichern. Ebenso beruhen die asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Männern


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