Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser
Der Grund dafür ist der, dass alles, was als echte Freiheit gilt, nach Rousseaus Ansicht ein Element metaphysischer Unabhängigkeit von den kausalen Naturgesetzen in sich tragen muss (DU, 105 / OC III, 141)40. Dieser Aspekt menschlichen Handelns wird sich aber niemals aus einer Entwicklungsgeschichte ergeben, die allein auf einer Theorie der menschlichen Natur fußt, die, weil sie nur Vervollkommnung und natürliche Anlagen in Anschlag bringt, auf rein naturalistische Erklärungen beschränkt bleibt. Wenn an irgendeinem weiter fortgeschrittenen Punkt des Zivilisationsprozess Spontaneität zu beobachten ist, dann muss sie, folgert Rousseau, in irgendeiner Form zur ursprünglichen Ausstattung gehört haben, die sich in der Zivilisation weiterentwickelt, denn ein metaphysischer Unterschied dieser Art – zwischen kausal bestimmter Natur und selbstbestimmter Freiheit – kann nicht durch die Entwicklung per se entstehen.
Die »Phänomene«, die wir als Äußerungen des freien Willens betrachten, sind selbstverständlich nicht Phänomene in demselben Sinn wie die oben zur Unterstützung der Hypothese vom natürlichen Mitleid angeführten Verhaltensbeispiele. Genauer gesagt, sind für die Letzteren die sie begründenden Belege in empirisch beobachtbarem Verhalten zu suchen – wie auch in einer allgemeinen These über die natürlichen Fortpflanzungszwecke von Lebewesen –, während es für die Hypothese des freien Willens keinen strikt empirischen Beleg geben kann. Das heißt, menschliche Handlungen, die wir für frei halten, lassen sich zwar empirisch beobachten, aber dass sie freier Selbstbestimmung entspringen und nicht notwendige Wirkungen vorangegangener, durch deterministische Gesetze erklärbarer Ursachen sind, lässt sich in keiner Weise aufgrund empirischer Tatsachen selbst annehmen. Rousseau ist sich völlig bewusst, dass seine »metaphysische« Hypothese des freien Willens weder in empirischen Beobachtungen noch in rein theoretischen Betrachtungen darüber gründet, was zur Erklärung empirisch beobachteter Phänomene gegeben sein muss (deterministische Naturgesetze könnten solche Anforderungen allerdings sehr wohl erfüllen). Aus diesem Grund bezeichnet er die Hypothese des freien Willens an anderen Stellen auch als »Glaubensartikel« und versucht seinen Glauben an den freien Willen mit dem Zeugnis seiner »inneren Stimme« zu begründen, eine Stimme, die jeder Mensch, wenn er nur darauf achtet, vernehmen kann und die in jedem, der ihr zuhört, das gleiche »Gefühl [seiner] Freiheit« hervorruft: »Man mag es mir abstreiten, soviel man will, ich fühle es, und das Gefühl, das zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, die dagegen ankämpft. … gebe ich nach oder widerstehe ich, unterliege ich oder bin ich Sieger, immer fühle ich vollkommen klar in mir, ob ich tue, was ich tun wollte …« (E, 572 ff. / OC III, 585 ff.).41 Es sollte daher deutlich sein, dass die Überlegungen, die Rousseau dazu bewegen, den freien Willen zu den Bestandteilen der ursprünglichen Natur des Menschen zu zählen, ganz anders gelagert sind als diejenigen, die ihn veranlassen, ihr Vervollkommnung, amour de soi-même und Mitleid zuzurechnen. Dass wir Menschen für frei halten, geschieht nicht auf der Grundlage empirischer oder anderer theoretischer Belege, die Unterstützung für diese Hypothese stammt vielmehr aus einer anderen Quelle, aus einem »Blick nach innen«, der nur aus der Perspektive der ersten Person möglich ist und der einen Beleg liefert, den man nur in Bezug auf das eigene Handeln gewinnen kann.42
Richtig verstanden ist Rousseaus Zuschreibung des freien Willens zur ursprünglichen Natur des Menschen, sowohl was den Inhalt als auch was ihre Begründungen betrifft, nicht weit von Kants wohlbekannter These entfernt, dass Menschen über Wahlfreiheit, ein arbitrium liberum, verfügen, die sie von nicht-menschlichen Tieren unterscheidet, welche nur ein arbitrium brutum besitzen, wobei der Unterschied der ist, dass jene von natürlichen Impulsen affiziert (oder beeinflusst), aber nicht bestimmt werden, während diese stets durch die natürlichen Impulse, die sie verspüren, bestimmt werden. 43 Die Hinsicht, in der sich Rousseaus Position am bedeutsamsten von der Kantischen unterscheidet – und dieser Unterschied ist zweifellos ein substantieller – ist in seiner These zu suchen, dass der Unbestimmtheitscharakter des Willens der Vernunft vorausgeht und in seiner Existenz von ihr unabhängig ist. (Für Kant, so wie ich ihn verstehe,44 sind nur Geschöpfe, die auch über reine praktische Vernunft verfügen, imstande, sich nicht von außen bestimmt zu lassen, sich also durch das arbitrium liberum auszuzeichnen – das heißt, es müssen Geschöpfe sein, die sich als unter einer Verpflichtung stehend verstehen und die dazu fähig sind, ihren Willen nach dem moralischen Gesetz, der obersten Maxime der reinen praktischen Vernunft, zu bestimmen. Wenn dies richtig ist, dann ist der freie Willen selbst in dem minimalen Sinn, in dem Rousseau ihn der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, nicht von der Vernunft unabhängig denkbar.) In anderen Fragen ist die Ähnlichkeit zu Kant zweifellos gegeben, doch was das Verhältnis von Freiheit und Vernunft betrifft, steht Rousseau in einer anderen großen Denktradition, in der des Voluntarismus, demzufolge Wahlfreiheit nicht die Ausübung der Vernunft erfordert. Für diese Tradition gleicht der Willensakt eher einem spontanen, unbegründeten »picking« oder Herausgreifen, und das beschreibt genau den Typus von Willensfreiheit, den Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen beilegt.
Eine andere Frage, in der Leser des zweiten Diskurses manchmal uneinig sind, bezieht sich auf das Verhältnis von Freiheit und Vervollkommnung. Wenn die oben vorgelegte Darstellung der ursprünglichen Freiheit richtig ist, dann sind die beiden Fähigkeiten strenggenommen voneinander unabhängig: Die Spontaneität des Willens setzt weder Vernunft noch Sprache voraus, und die bloße Existenz der latenten kognitiven Vermögen hängt in keiner Weise vom Vorliegen oder der Ausübung des Willens ab. Allerdings wird die Sache kniffliger, wenn man sich fragt, ob die Entwicklung der Vervollkommnung – die tatsächliche Entfaltung unserer latenten Vermögen – am freien Willen hängt. Rousseaus meint, dass dem so ist, aber dennoch ist zu klären, was genau seine Behauptung beinhaltet. Die mit der Vervollkommnung einhergehende Entwicklung bedarf der Ausübung von Freiheit, wenngleich in einem sehr besonderen Sinn: Die Entwicklung selbst ist von dem Geschöpf, das sie erfährt, zwar nicht gewollt – nicht bewusst beabsichtigt –, aber sie ist die unbeabsichtigte Folge frei gewählter Handlungen, die sich auf andere Zwecke richten. Als ungünstige Klimabedingungen und die größer werdende Zahl von Fresskonkurrenten die primitiven Menschen veranlassten, Angelhaken anzufertigen sowie Pfeil und Bogen zu erfinden, was in der Folge ihre Fähigkeit entwickelte, verschiedene Dinge in ein Verhältnis zueinander zu setzen, bestand das Ziel dieser schöpferischen Taten – frei insofern, als sie trotz ihrer Motivation durch den amour de soi-même spontane Abweichungen vom »Instinkt« darstellten – darin, den Hunger zu befriedigen, und nicht darin, Fähigkeiten zu vervollkommnen. Sich Klarheit über das Zusammenspiel von Freiheit und Vervollkommnung zu verschaffen, ist deshalb wichtig, weil wir dadurch verstehen, wie die kontingente Entwicklung der Menschen und ihrer Gesellschaft, die im Zweiten Diskurs eine so große Rolle spielt, sowohl das Ergebnis als auch nicht das Ergebnis des menschlichen Willens sein konnte: Sie ist das Ergebnis freier menschlicher Tätigkeit – ein Zustand, in den wir, nicht Gott oder die Natur, die Welt versetzt haben –, doch ist sie kein beabsichtigtes Ergebnis unseres Willens. Mit anderen Worten, der im zweiten Teil geschilderte Zivilisationsprozess (und folglich die Verschlechterung der menschlichen Gattung) muss als unserer eigenes Tun aufgefasst werden – als etwas, für das wir in dem Sinn verantwortlich sind, dass es das Ergebnis unserer freiwilligen Wahlakte ist und daher auch anders hätte ausfallen können –, nicht aber als eine Entwicklung, an der wir moralisch schuld sind (da wir sie weder beabsichtigt haben noch ihre Folgen, auch nicht in ihren frühen Stadien, hätten vorhersehen können). Selbst wenn »die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk sind« (DU, 99 / OC III, 138), sind sie doch nicht Ergebnisse unseres bösen Willens (oder der Erbsünde). Welche Bedeutung dieser Lehre für Rousseaus Unterfangen zukommt, liegt auf der Hand: Am Schluss der Erklärung für den Niedergang der menschlichen Gattung stehen Gott und die Natur – und auch wir – schuldlos oder »gerechtfertigt« dar (DU, 109 Anm. / OC III, 202), und die Verantwortung für die Verbesserung der von uns bewohnten Welt geht auf uns, die freien Schöpfer eben jener Eigenschaften über, die wir der Kritik der sozialen Ungleichheit zufolge verändern müssen.
Rousseaus Naturzustand – und die damit einhergehende Darstellung der Natur des Menschen – weist ein hervorstechendes Merkmal auf, das bei seinen Lesern auf viel Kritik gestoßen und bislang von mir kaum berührt worden ist. Gemeint ist der durch und durch individualistische Charakter der ursprünglichen Natur des Menschen, wie er sich in dem wiederholt betonten Umstand spiegelt,