Liebe verschenkt sich. Elisabeth Büchle

Liebe verschenkt sich - Elisabeth Büchle


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die Dunkelheit in ihr wichen und Friede sie erfüllte. Lange saß sie so da und ließ es einfach geschehen.

      Der Morgen des vierten Advents war angebrochen. Marthas Auszeit näherte sich dem Ende. Was erwartete sie zu Hause? Sie fühlte sich besser, keine Frage, doch wie sollte es weitergehen? Mit diesen Fragen im Herzen betrat sie den Raum der Stille. Sie stand vor dem Vorhang und traute sich nicht, ihn zu öffnen. Sie hoffte so sehr, dort eine Antwort auf diese drängenden Fragen zu finden und hatte gleichzeitig Angst, enttäuscht zu werden.

      Schließlich hielt sie die Spannung nicht mehr aus und öffnete den Vorhang. Dahinter stand ein bequemer Sessel, an dem ein Blatt mit vier Buchstaben hing: „Komm!“

      Sollte das heißen, dass sie sich auf diesen Sessel setzen sollte? In Martha sträubte sich alles. Nein, auf solch einen Sessel gehörte doch Jesus, ihr König! Und sie würde alles daran setzen, ihn zu bedienen. Plötzlich spürte sie, wie der Leistungsdruck sie wieder einholen wollte.

      Da hörte sie die Stimme in sich: „Martha, komm! Setz dich zu mir. Ich erwarte nichts von dir – ich erwarte dich!“ Setz dich zu mir! War das ihr Platz: bei Jesus sitzen, statt etwas für ihn zu leisten? Durfte sie das annehmen? Konnte sie das annehmen? In Martha kämpfte es. Sie ging einen Schritt auf den Sessel zu, dann wieder einen zurück. Sie starrte auf das Wort: „Komm!“ Ihr war, als würde Jesus ihr die Arme entgegenstrecken. In ihr sehnte sich alles danach, sich in diese offenen Arme fallen zu lassen – so wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war und in die Arme ihres Vaters rannte. Zögernd ging sie auf den Sessel zu und stand unschlüssig eine Weile davor. Dann setzte sie sich hinein – und weinte. Es tat so gut, weinen zu können. Die Anspannung in ihrem Innern ließ nach. Sie fühlte sich sicher und geborgen.

      Wie sollte es weitergehen? Was erwartete sie zu Hause? Sie hatte keine Ahnung. Doch sie wusste auf einmal, wer sie erwartete: das Kind in der Krippe, der Heiland am Kreuz, der König aller Könige. Er erwartete nichts von ihr, er erwartete sie! Nun war sie angekommen.

      von Hannelore Schnapp – nach einer wahren Begebenheit

      Der schwere Kohlenzug rattert über die Schienen, erschüttert die nahe gelegenen Häuser mit dem gewohnten halbstündlichen Beben. Versteckt hinter dem blühenden Sommerflieder stehen die beiden Mädchen in alten Spielkleidern und schmutzigen Schürzen. Die Freundinnen halten einander an den Händen. Helga, die Jüngere, wirkt klein und zart, fast zerbrechlich. Ihr weißblondes, dünnes Haar weht im Fahrtwind der vorbeijagenden Waggons. Irmgard hingegen ist robust und unverwüstlich, stark wie eine Löwin unter ihrem krausen Pagenschnitt.

      „Helga, schnell, ins Gleisbett, bevor der Gegenzug kommt.“

      In der flirrenden Hitze des Sommertages verschwimmen die Bahnschienen zu einem nicht enden wollenden Fluss, der sich von den umliegenden Zechen hin zu den Stahlwerken des Ruhrgebiets ergießt.

      „Kohlen sammeln im Sommer macht keinen Spaß!“, stellt Helga mürrisch fest. „Wie gerne wäre ich jetzt im Schwimmbad!“

      „Ich auch, aber wir wollen ja auch was essen, und dazu brauchen unsere Mütter die Kohlen! Mein Vater ist jetzt schon seit drei Jahren arbeitslos. Von dem bisschen Geld, das er nebenher verdient, und den Lebensmitteln, die mein Onkel meiner Mutter zusteckt, wenn sie seine schmutzige Metzgerwäsche gewaschen und gebügelt hat, können wir kaum leben. Wir sind froh, dass wir die Zechenhauswohnung behalten dürfen, obwohl Vater nicht mehr in der Bergwerksverwaltung arbeitet“, meint Irmgard niedergeschlagen und wischt sich mit ihren schwarzen Händen durchs Gesicht.

      „Mein Papa ist Tagelöhner. Jeden Tag bringt er etwas Geld und Mama schimpft immer, dass wir davon nicht leben und nicht sterben können. Was immer sie auch damit meint. Manchmal habe ich Angst, dass sie mein Akkordeon verkauft und ich nicht mehr spielen kann.“

      „Weißt du was, Helga? Warum ziehen wir nicht durch unsere Siedlung! Du machst Musik und ich singe. Vielleicht verdienen wir etwas Geld oder etwas zu essen.“ Irmgard ist ganz begeistert von ihrer Idee.

      „Die Leute sind doch alle so arm wie wir. Aber was ist mit der Steigersiedlung? Papa sagt immer, da wohne das Geld. Und vielleicht gibt es dort auch Bonbons oder Schokolade“, träumt Helga laut.

      „Wollen wir das nicht mal probieren? Nur unseren Eltern, den sollten wird davon besser nichts erzählen. Ich höre schon meine Mutter sagen: ‚Es wird nicht gebettelt, Irmchen!‘“

      „Außerdem müssen wir uns für unseren Auftritt erst mal waschen und schick machen. Du siehst aus wie die Tochter von Josephine Baker“, lacht Helga und streicht mit ihrem Finger über Irmgards Gesicht. „Schwarz wie ein Mohrenkind!“

      „Wir treffen uns gleich in der Waschküche!“, schlägt Irmgard vor, als sie auf dem Flur des Mietshauses stehen, in dem sie wohnen. Sie geben ihre Körbe voller Kohlen bei ihren Müttern ab und bekommen wie immer ein Schmalzbrot auf die Hand. Dann holen sie heimlich ihre guten Sonntagskleider und Schuhe aus den Schränken. Helga schnappt sich noch ihr Akkordeon und Irmgard ihre Strickmütze, um darin die Gage für ihren ersten großen Auftritt an diesem Ferientag zu sammeln. In der Waschküche im Keller schrubben die beiden mit Kernseife den Ruß von der Haut, ziehen sich um und kämmen einander. Wie immer jammert Irmgard, als der Kamm in ihrem krausen Haar hängen bleibt. Und Helga beschwert sich, weil sie so dünnes Fuddelhaar hat, in dem noch nicht mal eine Schleife halten will.

      Einige Straßen weiter liegt die Steigersiedlung mit den edlen Häusern und Villen der Steiger und Bergbauingenieure, der Assessoren und Werksdirektoren, die ein großer Park mit einem Casino, mit Biergarten und Springbrunnen umgibt.

      „So muss es im Paradies aussehen!“, seufzt Helga.

      „Jetzt fehlen nur noch die Paradiesvögel, die Musik machen und Lieder singen. Pack dein Akkordeon aus, und dann geht’s los ... Wie wär es mit ‚Lustig ist das Zigeunerleben‘ und ‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‘ anzufangen“, schlägt Irmgard vor.

      Von einem Wahlplakat schaut sie ein Mann mit dunklem, streng gekämmten Haar und einem markanten Oberlippenbart böse an, als wolle er sagen: „Wenn ich an der Macht bin, werde ich euch das Singen dieser Lieder schon austreiben.“

      Während sie ein Lied nach dem anderen anstimmen, schauen nach und nach immer mehr Frauen und Kinder aus den Fenstern oder kommen aus dem Park, um zu sehen, wer da Musik macht. Einige Mädchen tanzen sogar dazu, ältere Frauen singen mit. Nach dem letzten Lied geht Irmgard zaghaft mit der Wintermütze herum. Und siehe da, es kommen einige kleine Münzen, Bonbons, ein paar Murmeln und eine tote Maus zusammen.

      Als die beiden noch dabei sind, ihre Schätze zu sortieren, spricht eine Frau in einem wehenden weißen Sommerkleid sie an. „Ihr habt so schön gesungen. Drüben im Haus liegt meine kranke Tochter Else. Würdet ihr mitkommen und für sie singen? Sie würde sich sehr darüber freuen.“

      Die Freundinnen nicken und folgen der eleganten Dame ins Haus. „Schau mal, wie das hier aussieht. Ist das ein Schloss?“, fragt Helga leise Irmgard.

      „Ich weiß nicht. Solche Möbel und Bilder und Blumen habe ich noch nie gesehen“, antwortet diese flüsternd, als sie die große Treppe nach oben steigen. Vor einer Tür, an eine Wand im Flur gelehnt, steht das schönste Fahrrad, das Irmgard je gesehen hat. Sie sieht sich schon damit den langen Flur entlangsausen und die Siedlung erobern. Aus der Ferne holt die Stimme der Frau sie wieder in die Realität zurück.

      „Hier wohnt meine kleine Else. Sie ist sehr krank und kann nicht laufen. Wie heißt ihr eigentlich?“, fragt Elses Mutter.

      „Helga und Irmgard“, stellen sie sich vor und machen gehorsam einen Knicks.

      „Ich bin Frau Direktor Hussmann. Mein Mann leitet die Zeche hier vor Ort. Aber nun kommt!“

      Ein solches Kinderzimmer haben Helga und Irmgard noch nie gesehen. Es gibt Spielzeug aller Art. Auf dem Sessel sitzt die schönste Puppe der Welt, denkt Helga wehmütig. Im weißen großen Bett liegt ein blasses Mädchen und schaut sie mit großen Augen an.

      „Else, ich habe dir Besuch mitgebracht. Das sind


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