Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Kriegsteilnehmer, Verwundeter und Träger des Eisernen Kreuzes genoß ich bei meinem anschließenden Studium der neueren Sprachen mancherlei Vorteile, kam mit vielen Engländern und Amerikanern, die während der Inflation Deutschland bevölkerten, in enge und freundschaftliche Berührung, arbeitete als Student für eine amerikanische Zeitungsagentur in Berlin und kam dadurch zum ersten Male mit der internationalen Politik, und zwar auf sehr intensive amerikanische Weise, in Berührung.
Um diese Zeit, nach der Konferenz von Genua im Jahre 1921, veranstaltete das Auswärtige Amt besondere Kurse zur Ausbildung, von Konferenzdolmetschern. Etwas Derartiges hatte es bisher noch nicht gegeben, da ja in früheren Zeiten der diplomatische Verkehr meist durch Berufsdiplomaten wahrgenommen wurde; diese beherrschten selbstverständlich die französische Sprache, welche vor dem Ersten Weltkrieg allgemein als Diplomatensprache galt. Nach 1918 änderten sich jedoch diese Verhältnisse grundlegend. Die „Geheimdiplomatie“, die man als Hauptursache des Krieges ansah, sollte aufhören. Man verhandelte weniger auf diplomatischem Wege als vielmehr auf großen internationalen Konferenzen. Die einzelnen Länder wurden dabei meist nicht durch Botschafter vertreten, sondern durch die Staatsmänner, die Ministerpräsidenten und Außenminister selbst, da man annahm, daß der direkte, persönliche Kontakt schneller zum Ziele führen würde als die alten Methoden. Diese neuen Repräsentanten der Nationen beherrschten aber fremde Sprachen meistens nur unvollkommen, und so entstand ein ganz neuer Beruf.
Der Dolmetscher, der auf solchen Konferenzen die Reden und Gespräche der Staatsmänner übersetzte, verdankt seine Rolle in der internationalen Politik dieser Demokratisierung der politischen Verhandlungsmethoden. Er nahm notwendigerweise an allem, auch an den geheimsten Zwiesprachen unter vier Augen – die so oft zu Aussprachen unter sechs Augen wurden – teil. Es wurde von ihm erwartet, daß er möglichst unauffällig arbeitete und nicht etwa durch häufiges Dazwischenübersetzen die Atmosphäre der Vertraulichkeit oder den Fluß der Rede bei großen Anlässen unterbrach. Daraus entstand die neue Übersetzungstechnik der Übertragung ganzer Reden oder großer Gesprächsabschnitte in einem Zuge. Auf diese Weise trat der Dolmetscher als störendes Element so gut wie gar nicht mehr in Erscheinung. Er verlängerte natürlich die Zeit, die zur Abwicklung eines Verhandlungsprogramms notwendig war. Dafür aber bot seine Arbeit den Vorteil, daß sich die Verhandlungspartner während seiner Übersetzungen die Fragen und Antworten noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen konnten.
Bei dieser neuen Übertragungstechnik mußte sich der Dolmetscher selbstverständlich stichwortartige Notizen machen, während er die zu übersetzende Rede anhörte. Diese Stichworte eigneten sich gut zur Anfertigung von vertraulichen Aufzeichnungen über den Inhalt. Aus ihnen läßt sich heute noch der Ablauf von Verhandlungen sehr genau rekonstruieren, und sie sind daher ein wertvolles Material für die Historiker, die sich eingehender mit den Zusammenhängen und Hintergründen der verwirrenden Zeiten nach 1918 beschäftigen wollen.
Diese neue Technik wurde auf den Kursen des Auswärtigen Amtes eingehend gelehrt. Die Teilnehmer waren unter den Studenten der Berliner Universität ausgewählt worden. Es waren teils Juristen, teils Neuphilologen. Auch ich erhielt eine Aufforderung und machte die gesamte Ausbildung durch.
Inzwischen hatte ich mein Studium abgeschlossen und befand mich im Juli 1923 gerade bei den letzten, fieberhaften Vorbereitungen zum mündlichen Examen. Eines Abends beschäftigte ich mich, mit angstvollem Blick auf die herannahende romanistische Prüfung, gerade mit einem dicken Wälzer über den altprovenzalischen Minnesang, als das Schicksal im wahrsten Sinne des Wortes an mein Fenster klopfte. Es präsentierte sich mir in Gestalt eines Boten des Auswärtigen Amtes, der mir einen kurzen Eilbrief vom Leiter des Sprachendienstes überbrachte. Dieser teilte mir mit, er müsse mich noch am gleichen Abend in einem kleinen Restaurant am Savignyplatz in Charlottenburg sprechen.
Ich machte mich sofort auf den Weg. Bei einem Glase Weine eröffnete mir mein späterer Chef, Geheimrat Gautier, dann zu meiner grenzenlosen Überraschung, daß bei Verhandlungen vor dem Internationalen Gerichtshof im Haag Schwierigkeiten mit dem Dolmetscher entstanden seien, und daß er beabsichtige, mich versuchsweise dort einzusetzen. „Wenn Sie es gut machen“, sagte er mir zum Abschluß, „können Sie vielleicht in nicht allzu ferner Zeit ins Auswärtige Amt übernommen werden.“
Der Boden schien mir bei diesen Worten leicht zu schwanken, und das war bestimmt nicht dem Wein zuzuschreiben, zu dem mich der allgewaltige Beherrscher der Sprachen aus dem Auswärtigen Amt eingeladen hatte, um mir die Entscheidung leichter zu machen.
Denn ich mußte mich kopfüber in dieses Unternehmen hineinstürzen, das mir natürlich wie ein tolles Abenteuer erschien. Gleich am nächsten Abend sollte ich abreisen. Ich mußte meine Examenstermine verschieben und die Professoren beschwichtigen, die selbstverständlich einem jungen Wissenschaftler eine derartige Tätigkeit in der verpönten Praxis sehr übelnehmen würden.
Aber ich entschloß mich, den Vorschlag des Auswärtigen Amtes anzunehmen, und saß am nächsten Abend mit Pässen, Visen, holländischen Gulden und einer Schlafwagenkarte auf dem Bahnhof Friedrichstraße. Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich einen Schlafwagen bestieg, und als ich in dem schönen Mitropabett lag, kam mir schon aus diesem Grunde alles wie ein Traum vor. Hätte ich damals gewußt, auf welche Reise ich mich begab, so hätte ich wohl kaum ein Auge zugetan. Hätte ich ahnen können, wieviel Tausende von Kilometer ich in den folgenden Jahren kreuz und quer durch Europa reisen würde, wie oft ich später mit immer größer und bequemer werdenden Flugzeugen zwischen Berlin, London, Paris und Rom hin- un herfliegen würde, so daß ich auch heute noch jedem Piloten den Weg zeigen könnte, hätte ich mir an jenem Abend im Schlafwagen auch nur einen Augenblick lang vorgestellt, daß ich in den nächsten fünfundzwanzig Jahren bei fast allen europäischen Gesprächen und Konferenzen in Politik und Wirtschaft die bescheidene, aber nicht unwichtige Rolle eines Dolmetschers zwischen den Großen Europas spielen würde, dann wäre ich bestimmt bis zum Haag hell wach geblieben. „Keine Feier ohne Meyer“ sagten meine boshaften Berliner Freunde in Anlehnung an den Reklamespruch einer bekannten Likörfirma später, wenn sie auf meine Tätigkeit zu sprechen kamen. Sie hatten mit ihrer Charakterisierung nicht unrecht.
Während ich so nichtsahnend meinem Schicksal entgegenfuhr, hörte die Weltgeschichte auf, für mich etwas rein Privates zu sein. Von jenem Abend ab wurde sie zu einem Bestandteil meines Berufes.
1
AUFTAKT IM HAAG (1923)
„Devisenkontrolle, Pässe vorzeigen“, weckte mich eine Stimme im Morgengrauen. Wir waren an der Grenze. Aber sofort zeigte sich die Wunderwirkung meines ersten amtlichen Passes. Es war noch nicht der blaue Diplomatenpaß, den ich in späteren Jahren bei mir trug, auch noch nicht der grüne Ministerialpaß, der in England wegen seines mißverstandenen Wörtchens „Ministerial“ manchmal zu den komischsten Empfangsfeierlichkeiten führte, es war ein einfacher Sonderausweis auf dickem Amtspapier, den ich durch die Türspalte hinausreichte, und sofort tönte es zurück: „Alles in Ordnung, danke sehr und gute Reise.“
Beruhigt streckte ich mich wieder aus und setzte den unterbrochenen Schlaf bis tief in den Morgen hinein fort. Erst in Apeldoorn blickte ich zum Fenster hinaus. Ein blitzsauberer, gepflegter Bahnhof. Behäbige, alte Holländer und würdige Matronen schritten gemächlich auf einen gegenüber haltenden Zug mit einer Lokomotive zu, die aus einer alten Spielzeugschachtel zu stammen schien. Es war tatsächlich wie ein Traum.
Aber allmählich kam auch das unvermeidliche Erwachen. Je mehr wir uns dem Haag näherten, um so beklommener wurde es mir ums Herz. Ich wurde mir nach der Freude über den ungewohnten Reisekomfort und das Wunder des fremden, friedlichen Landes allmählich immer stärker bewußt, auf was für ein gefahrvolles Abenteuer ich mich eigentlich eingelassen hatte. Ich war ja noch niemals im Ausland gewesen, ich hatte meine Sprachkenntnisse auf rein „synthetische“ Weise an der Berliner Universität erworben. Zwar wurde dort nach den neuesten Methoden unterrichtet, mit Mikrophon und Schallplattenaufnahmen, so daß man Satz für Satz die eigene Aufnahme mit der eines richtigen Engländers oder Franzosen vergleichen konnte. Ich war durch eine sehr strenge Schule gegangen, aber trotzdem … war es nicht fast eine Herausforderung an das Schicksal, daß