Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Rednerpult. Es herrschte eine gespannte Stille. Von der Publikumstribüne her hörte ich erwartungsvolles Hin- und Herrücken und Hüsteln. Damals war die Kenntnis des Deutschen beim internationalen Publikum noch sehr viel weniger verbreitet als heute. Den ganzen Krieg über und in den Nachkriegsjahren waren nur wenige Deutsche im Ausland aufgetaucht. An internationalen Konferenzen hatte das Reich noch kaum teilgenommen, und so hatte ich denn deutlich das Gefühl, daß sowohl die Zuschauer als auch die alliierten Vertreter voller Interesse auf die Übersetzung der Ausführungen Schiffers warteten. Auch die Richter blickten gespannt nach mir hin. Ich holte einmal ganz tief Luft und begann dann mit meiner Übersetzung. Unter dem Zwang, nun ganz auf mich selbst gestellt vor aller Augen und Ohren zeigen zu müssen, was ich leisten konnte, waren erstaunlicherweise mit einem Schlage die Beklommenheit und Angst von mir gewichen. Und als ich nach den ersten Minuten merkte, daß die Wiedergabe der deutschen Plaidoyers gar nicht so schwer war, wie ich geglaubt hatte, fühlte ich mich an dem Rednerpult fast wie zu Hause. Im Unterbewußtsein hatte ich den Eindruck, vor meinen Lehrern im Auswärtigen Amt zu stehen, vor Geheimrat Gautier oder Professor Freund, und verlor dem plötzlich gar nicht mehr so streng dreinblickenden Präsidenten des Gerichtes gegenüber, den ich ja der Gepflogenheit gemäß direkt anzusprechen hatte, jede Scheu. Meine Übersetzung wickelte sich fast wie eine Unterhaltung mit ihm ab, und nach einer halben Stunde kehrte ich befriedigt und erleichtert an meinen Platz zurück. Mindestens ebenso erleichtert war natürlich die kleine Delegation. Martius gab mir zur Ermunterung gleich zu verstehen, daß Schiffer und er mit mir sehr zufrieden waren.
Danach kam die Gegenseite zu Wort. Zuerst der Engländer und dann Basdevant. Die Alliierten stützten sich naturgemäß hauptsächlich auf den Wortlaut des Versailler Vertrages. Zum ersten Male erlebte ich hier wie später noch bei vielen anderen Gelegenheiten, wie sehr die französische und gelegentlich auch die englische Jurisprudenz auf den Buchstaben des Gesetzes Wert legt und erst in zweiter Linie den Geist der Bestimmungen heranzieht. Die von deutscher Seite aufgestellte These, daß das Völkerrecht den Vorrang vor den Einzelverträgen habe, wurde in keiner Weise anerkannt.
Außerdem stellte die Gegenpartei der deutschen These über die Pflichten der Neutralen den Vergleich des Kieler Kanals mit dem Suez-und dem Panama-Kanal entgegen. Letztere sind tatsächlich rechtlich den Meerengen gleichgestellt, d. h. sie stehen theoretisch im Krieg und im Frieden sämtlichen Schiffen aller Nationen, ohne Rücksicht darauf, ob sie Krieg führen oder neutral sind, offen. Diese Assimilierungstheorie der Alliierten wiederum wurde von deutscher Seite in keiner Weise anerkannt, da der Kieler Kanal als rein deutsches Hoheitsgebiet betrachtet wurde.
Trotz der scharfen Gegensätze fiel mir die Höflichkeit angenehm auf, mit der man uns Deutsche dort vor Gericht behandelte, nicht nur in den Sitzungen, sondern auch in den Verhandlungspausen, wo Engländer, Franzosen, Italiener und andere Alliierte sich mit uns Deutschen aufs freundschaftlichste unterhielten, als gäbe es keinen „Wimbledon“-Fall, als bestünden keine scharfen internationalen Spannungen, als seien die Franzosen und Belgier nicht ins Ruhrgebiet eingerückt, und als gäbe es keinen passiven Widerstand der deutschen Zivilbevölkerung.
Genau so, wie mir meine erste Übersetzung gelungen war, erging es mir in diesen Tagen bei den anderen Gelegenheiten, bei denen ich aufs „Trapez“ mußte.
Ich hatte übrigens mit der Übersetzung der englischen und französischen Ausführungen nichts zu tun. Denn die amtlichen Sprachen des Haager Gerichtshofes waren die gleichen wie die des Völkerbundes: Englisch und Französisch, im Gegensatz zu den Vereinten Nationen von heute, wo noch Russisch, Spanisch und Chinesisch hinzugekommen sind. Allerdings werden auch hier nur Englisch und Französisch als Arbeitssprachen verwendet. Jeder Redner, der sich in einer nichtamtlichen Sprache ausdrückte, mußte damals selbst für die Übersetzung in eine der beiden Amtssprachen Sorge tragen. Dieser Bestimmung verdankte ich meine Anwesenheit im Haag, denn Schiffer sprach nur deutsch, und erst der französische Text galt vor Gericht. Das deutsche Original besaß keinerlei amtlichen Wert und wurde auch nicht stenographisch aufgenommen. Das geschah nur mit den englischen und französischen Darlegungen. Meine französische Übersetzung übertrug der damals sehr bekannte Professor Camerlynck vom französischen Auswärtigen Amt, der als offizieller Gerichtsdolmetscher fungierte, ins Englische. Ich selbst konnte diese englische Übersetzung nicht vornehmen, denn sie hätte vom Gericht aus gesehen als eine Übertragung aus dem Französischen ins Englische gegolten, und ich hätte mir Funktionen angemaßt, die mir als Mitglied einer Einzeldelegation nicht zustanden.
So hatte ich denn diese erste Feuerprobe glücklich überstanden, Michaelis war tatsächlich am ersten Tage abgereist, nachdem er mir noch neidlos erklärt hatte, er verstehe nicht, wie ich das eigentlich fertiggebracht habe. Zum Abschied gab er mir noch einige Tips, wie ich dieses oder jenes besser machen könnte. Er hat mich überhaupt auch in der Folge stets freundlich und nachsichtig unterstützt, obwohl er damals und später allen Grund gehabt hätte, mich als einen scharfen Konkurrenten zu behandeln.
Ich kehrte dann mit der Delegation, nicht ohne ein gewisses Gefühl der Freude über meinen ersten Erfolg, wieder nach Berlin zurück und sollte schon nach kurzer Zeit in das Auswärtige Amt übernommen werden.
Am 17. August wurde im Haag das Urteil gesprochen. Meine Anwesenheit war dafür nicht mehr nötig, die Verhandlungen waren ja abgeschlossen. Deutschland verlor den Prozeß. Das Gericht stellte, allerdings nur durch Mehrheitsbeschluß, fest, daß die „Wimbledon“ zu Unrecht an der Durchfahrt durch den Kieler Kanal gehindert worden war. Außerdem wurde das Reich zur Zahlung eines Schadenersatzes von 140 000 Francs zum Ausgleich für die Verluste verurteilt, die infolge der Liegezeit und der Umleitung des Schiffes durch das Skagerrak entstanden waren.
2
TIEFPUNKT IN BERLIN (1923/24)
Nach dem kurzen Aufenthalt in Holland sah ich die Verhältnisse in Deutschland plötzlich in einem ganz anderen, klareren Licht. Die ruhige, behäbige Friedensatmosphäre, die während einer Woche in den Niederlanden wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht auf mich wirkte, hatte meine Sinne für die Katastrophenstimmung, die damals in Deutschland und vor allem in Berlin herrschte, sehr geschärft.
Das Reich befand sich im Sommer 1923 auf dem Höhepunkt des Ruhrkonfliktes. Seit dem 11. Januar hatte Poincaré dieses auch nach dem ersten Weltkrieg im Vordergrund der Politik stehende reichste Gebiet Deutschlands besetzt. Der Anlaß war ein geringfügiger Verzug des Reiches in den Reparationslieferungen an Kohle und Holz. Der eigentliche Grund des französischen Vorgehens war aber bereits damals die Sorge Frankreichs um die „sécurité” und sein Wunsch, die Kohlen- und Koksversorgung der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie sicherzustellen sowie sich der Industriekapazität des Ruhrgebietes zu bemächtigen.
Poincaré hatte durch seine Ruhraktion das deutsche Volk in seltener Weise von links bis rechts geeinigt. Industrielle und Arbeiter des Ruhrgebietes setzten dem französischen Vorgehen den passiven Widerstand entgegen und brachten dadurch Frankreich zu dessen Überraschung um die wirtschaftlichen Früchte seines Unternehmens. Industrielle, wie Krupp und Thyssen, wurden von Militärgerichten der Besatzungsarmee zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, genau so wie Arbeiter wegen Ungehorsams gegen die Verordnungen der Besatzungsbehörden zur Verantwortung gezogen wurden. Das Ruhrgebiet war durch eine Zollgrenze fast so hermetisch vom übrigen Deutschland abgeschlossen wie nach 1945 die Ostzone durch den Eisernen Vorhang. Die Eisenbahnen wurden von französischem und belgischem Personal betrieben.
Gleichzeitig erreichte die Markentwertung, nicht zuletzt infolge der Subventionierung des Ruhrwiderstandes durch die deutsche Regierung, ein immer gigantischeres Ausmaß. Milliardenscheine wurden zu Kleingeld, von einem Tage zum anderen verdoppelten sich die Preise und stiegen innerhalb einer Woche oft auf das Zehnfache. Ich hatte daher nicht ohne Grund zu träumen geglaubt, als ich in den Schaufenstern im Haag plötzlich wieder Preisschilder mit einstelligen Zahlen und Pfennigoder vielmehr Centbeträgen erblickte. Um so jäher war jetzt in Berlin das Erwachen aus diesem Traum. Nach dem ruhigen Selbstbewußtsein, das sich in den Gesichtern der Holländer widergespiegelt hatte, empfand ich jetzt auf einmal die unstete Hast, die meine Berliner Landsleute zur Schau trugen, um so stärker. Wie aus einem überheizten Dampfkessel schlug mir die Krisenatmosphäre in Deutschland