Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Der Gewinn für Deutschland schien mir seinerzeit vor allem darin zu liegen, daß der Dawes-Pan davon ausging, die deutsche Wirtschaft in den Stand zu setzen, ein Höchstmaß an Leistungen hervorzubringen. Auf diese Weise sollte die Erfüllung der Reparationsverpflichtungen ermöglicht werden, ohne daß die Stabilität der deutschen Währung dabei in Gefahr geriete. In dem Bericht hieß es auch, daß die deutsche Steuerlast ebenso hoch sein müsse wie die der anderen europäischen Länder, die in der Reparationskommission vertreten waren. Das bedeutete, daß der einzelne Deutsche keine größere Steuerlast zu tragen haben würde als die übrigen Europäer. Das Wichtigste aber schien mir die Feststellung, die im Mittelpunkt der Darlegungen stand, daß das Programm nur verwirklicht werden könne, wenn die Einheit Deutschlands in wirtschaftlicher und fiskalischer Hinsicht wiederhergestellt würde. Dies aber schließe die Beseitigung aller seit dem Beginn des Ruhrkampfes auferlegten Beschränkungen in sich, nämlich die Wiedereinsetzung der deutschen Behörden in der finanziellen und wirtschaftlichen Verwaltung, die Rückgabe der in alliierter Regie geführten industriellen und landwirtschaftlichen Betriebe, besonders auch der Bergwerke und der Schiffahrtsunternehmungen sowie die Aufhebung der Beschränkungen des Personen- und Güterverkehrs. Diese Vorschläge deckten sich mit der deutschen Forderung nach Räumung des Ruhrgebietes als Vorbedingung für die Wiederaufnahme der Zahlungen voll und ganz.
Andererseits waren die vorgesehenen Zahlungen zweifellos sehr hoch. Wichtige Zweige der deutschen Wirtschaft, wie z. B. die Reichsbahn, wurden mit schweren Sonderlasten belegt, und eine Gesamtsumme für die deutsche Reparationsschuld war immer noch nicht festgesetzt worden. Es waren lediglich Jahresleistungen in Aussicht genommen, die Deutschland auf unbestimmte Zeit aufzubringen hatte.
Die Industrie mußte 5 Milliarden Goldmark an Obligationen übernehmen, die als erste Hypothek eingetragen wurden. Die Reparationszahlungen bestanden in deren Verzinsung zu 5% und ihrer Tilgung zu 1%.
Die deutsche Eisenbahn wurde in eine Aktiengesellschaft mit einem Kapital von 15 Milliarden Goldmark umgewandelt. Als erste Hypothek wurden davon 11 Milliarden Goldmark Reparationsschuldverschreibungen eingetragen, die auch wieder mit 5% zu verzinsen und mit 1% zu tilgen waren.
Die Einnahmen des Reiches aus der Beförderungssteuer, ebenso wie aus Zöllen auf Alkohol, Tabak, Bier und Zucker wurden als Sicherheit für die Reparationszahlungen an die internationale Reparationskommission verpfändet.
Die Reichsbank wurde zu einer von der Reichsregierung unabhängigen deutschen Notenbank umgestaltet, um auf diese Weise die Stabilität der Währung durch Ausschaltung einer Einwirkungsmöglichkeit der Regierung zu sichern.
Das Normaljahr für die Reparationsbelastungen sollte nach einer Atempause am 1. September 1928 beginnen und brachte dem deutschen Volk eine Belastung von 2 Milliarden 500 Millionen Mark. Deutschland brauchte diese Beträge lediglich in Reichsmark an den Reparationsagenten zu überweisen. Für die Umwechselung dieser Summe in fremde Währung war der sogenannte Transfer-Ausschuß aus Vertretern der Gläubigerländer verantwortlich, der jedoch die Auflage erhielt, die Umwechselung nur in einem Ausmaße vorzunehmen, das die deutsche Währung nicht gefährde.
In dem Dawes-Plan war zum ersten Male nach 1919 das Reparationsproblem von der Wirtschafts- und Finanzseite her angepackt worden. Wegen der Aussichtslosigkeit, die auch damals hinsichtlich einer Einigung der Alliierten über eine endgültige Gesamtreparationssumme bestand, und wegen der Unmöglichkeit, angesichts der völlig unübersichtlichen Zukunftsentwicklung der Wirtschaftsverhältnisse in Deutschland und in der Welt eine wirtschaftlich realisierbare Gesamtsumme schon zum damaligen Zeitpunkt festzusetzen, hatte man im Sachverständigenbericht jeden Versuch zu einer Fixierung des Betrages unterlassen. Das war natürlich für Deutschland eine schwere Belastung angesichts der Ungewißheit, die dadurch über die Dauer des Reparationsregimes mit allen seinen Souveränitätsbeschränkungen bestehen blieb.
Noch nie war vorher in der Geschichte eine Wertübertragung von einem Lande zum anderen in solchem Ausmaße erfolgt; die sachverständigen Nationalökonomen befanden sich daher auf völligem Neuland. So wurde denn diese Lösung, wie sich dies aus dem Bericht selbst und vor allem auch aus Äußerungen einzelner Ausschußmitglieder später ergab, als ein Provisorium betrachtet. Man erwartete allgemein, daß in einigen Jahren die ganze Frage erneut aufgegriffen werden müsse.
Dabei war das Problem der Aufbringung dieser riesigen Jahresleistungen noch verhältnismäßig leichter zu übersehen als die Frage, auf welche Weise und in welchem Ausmaße diese Summen aus der deutschen Volkswirtschaft ohne Gegenleistung in die fremden Volkswirtschaften übertragen werden könnten. So ist letzten Endes die Lösung der Reparationsfrage auch bei dem zweiten Versuch, der im Jahre 1930 mit dem Young-Plan gemacht wurde, an der Unmöglichkeit gescheitert, selbst kleinere Summen als ursprünglich im Dawes-Plan vorgesehen in fremde Volkswirtschaften zu übertragen, bis schließlich im Jahre 1932 die Reparationen vollständig eingestellt werden mußten.
Eine Zeitlang wurden zwar diese Transferschwierigkeiten durch Auslandsanleihen verschleiert, die aus Amerika und zum Teil auch aus England nach Deutschland hereinströmten. Im Grunde genommen wurde dadurch weiter nichts erreicht, als daß ein Teil dieser Anleihen in Gestalt von Reparationen in die Taschen französischer, belgischer und englischer Reparationsgläubiger zurückfloß. Als der Anleihestrom versiegte, hauptsächlich wegen der nach 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise, geriet dieser Mechanismus bald ins Stocken.
Wenn sich auch der Dawes-Plan, wie seine Nachfolger, 1924 mit einer an sich wohl unlösbaren Aufgabe befaßte und, rein wirtschaftlich gesehen, als unbefriedigend erwies, so waren seine politischen Folgen dafür um so nachhaltiger. Sie traten auf der im August des Jahres 1924 in London abgehaltenen Konferenz klar zutage. Denn der Dawes-Plan, der dort von den beteiligten Regierungen offiziell angenommen wurde, bildete den Hintergrund für politische Lösungen im Verhältnis Deutschland-Frankreich und gab damit der für die europäische Befriedung so wichtigen Verständigung dieser beiden Länder einen neuen Anstoß.
Mehrere glückliche Umstände trugen ihr Teil dazu bei. Die Mißerfolge der starren Politik Poincarés wurden schließlich auch in Frankreich so stark empfunden, daß ein anderer Mann, Edouard Herriot, ans Ruder kam, der den Problemen erheblich aufgeschlossener gegenüberstand. Auch in England kam durch MacDonald ein frischerer Wind in die traditionelle englische Politik des engen Zusammengehens mit Frankreich.
Wie sich Herriot, Stresemann und MacDonald in London zu einem ersten gemeinsamen europäischen Werk zusammenfanden, wie diese erste Annäherung nach dem Kriege von 1914 zustandekam, wie auf der Londoner Konferenz der erste Bruch mit der Methode bisheriger Konferenzen der Nachkriegszeit erfolgte und zum ersten Male die deutschen Vertreter, zum mindesten formell, wieder als Gleichberechtigte mit den Vertretern der anderen Länder am Verhandlungstische saßen, das sollte ich als direkter Augenzeuge und Dolmetscher Stresemanns in der Hauptstadt des englischen Weltreiches im August 1924 persönlich miterleben.
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SILBERSTREIFEN IN LONDON (1924)
Das Wort vom „Silberstreifen an dem sonst düsteren Horizont“, mit dem Stresemann im Frühjahr 1924 sehr vorsichtig seiner leisen Hoffnung Ausdruck gab, daß sich aus den Verhandlungen der Reparationssachverständigen eine günstige Wendung in der politischen Entwicklung ergeben werde, ist ihm von seinen Gegnern in Deutschland in der Folgezeit jedesmal höhnisch entgegengehalten worden, wenn ein Rückschlag in der Außenpolitik eintrat. Es wurde ihm eigentlich zu Unrecht zugeschrieben, denn es stammte von einem sehr nüchternen Beobachter der damaligen Entwicklung, dem Staatssekretär Bergmann, der die Reparationsverhandlungen im Auftrage der Reichsregierung führte. Es konnte daher wohl kaum einen Berufeneren geben, um ein derartiges Urteil auszusprechen.
Wir übersetzten den Silberstreifen mit „silver lining“ und waren nicht nur aus sprachlichen Gründen froh, daß dieser Ausdruck auch in der englischen Presse allgemein Eingang fand. Denn auch in England hatte man das Gefühl, daß nun das Dunkel der Nacht allmählich zu weichen begann. An den französischen Ausdruck, der damals gebraucht wurde, entsinne ich mich heute nicht mehr; das mag daran liegen, daß in der französischen Presse bei der damaligen Lage natürlich davon nicht gesprochen wurde. Frankreich blieb