Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
auch nicht naturgetreuer dargestellt werden können.
In einem der oberen Stockwerke gelangten wir dann nach einigem Hin und Her in ein Zimmer, an dessen Tür das Schild „Private“ hing. Wir gingen hinein, während unsere beiden englischen Begleiter plötzlich verschwunden waren.
Auf unseren Gesprächspartner Herriot brauchten wir nicht lange zu warten. Er erschien schon ein paar Augenblicke nach unserem Eintreffen. Sicherlich war er auf ebenso geheimnisvolle Weise an den Ort unserer Zusammenkunft gelangt wie wir. Er hatte niemand mitgebracht, denn es sollte ja ein Gespräch von Mann zu Mann werden, abseits und außerhalb der diplomatischen Gepflogenheiten. Körperlich machte Herriot wieder den gleichen etwas unbeholfenen Eindruck auf mich wie das erstemal. Er war so ganz anders als das Bild, das ich mir von einem Franzosen gemacht hatte. Er hätte ebensogut ein pommerscher Landwirt sein können mit seinen breiten Schultern, seinem massigen Kopf und seinem riesigen Umfang. In diesem gewaltigen Körper aber steckte ein echt französischer Geist mit all seiner feingeschliffenen Formulierungskunst und seiner scharfen, verstandesmäßigen Durchdringung der Probleme. Herriot hatte ein gutmütiges, offenes Gesicht und richtete seine großen Augen fest und forschend auf Stresemann und mich. Wie bei der ersten Begegnung auf der Konferenz hatte ich auch diesmal den Eindruck, daß von Zeit zu Zeit ein gewisses Mißtrauen in seinen Blicken aufleuchtete. Das geschah zwar immer nur für ganz kurze Zeit, aber es war doch nicht zu verkennen.
Mit einem halben Lächeln reichte Herriot Stresemann und mir die Hand und nickte dabei freundlich mit dem Kopf. Dann ließ er seinen schweren Körper in den dritten Sessel an dem kleinen runden Tisch sinken, streckte behaglich die Beine von sich, holte eine große Pfeife hervor und stopfte sie langsam und bedächtig aus einem noch größeren Tabaksbeutel. Was ich allgemein über Pfeifenraucher bemerkt habe, fiel mir auch hier wieder ein. „Er raucht die Friedenspfeife“, schoß es mir durch den Sinn.
Ehe das Gespräch begann und meine Aufmerksamkeit durch die technische Seite meiner Aufgabe in Anspruch genommen wurde, hatte ich noch ein paar Augenblicke lang so deutlich wie selten das Gefühl, der Eröffnung eines neuen Kapitels, ja eines ganz neuen Buches in der Geschichte der beiden Nachbarvölker, der Deutschen und der Franzosen, beizuwohnen. Fast körperlich wurde mir bewußt, daß in diesem Augenblick von den beiden mir gegenübersitzenden Männern eine unsichtbare, aber trotzdem äußerst reale, scharf trennende Grenze überschritten wurde.
Aus diesen Überlegungen wurde ich durch Stresemanns Stimme herausgerissen, der gleich zu Beginn der Unterhaltung ohne Umschweife auf die Kernpunkte des damaligen deutsch-französischen Verhältnisses zu sprechen kam.
„Gerade Sie als alterfahrener Parlamentarier, Herr Herriot, werden verstehen“, erklärte Stresemann mit einer leicht näselnden, metallisch preußischen Stimme, „daß ich unmöglich vor den Reichstag hintreten kann, um ihm die Annahme des Dawes-Abkommens zu empfehlen, ohne daß über den Hauptpunkt, der die Gemüter in Deutschland seit Anfang des vergangenen Jahres bewegt, die Ruhrfrage und ihre Liquidation, etwas von mir gesagt wird.“
Während ich Herriot diese Worte übersetzte und er mir sehr aufmerksam zuhörte, denn er verstand nur sehr wenig Deutsch, verfolgte ich voll innerer Spannung sein Mienenspiel. Ich war durchaus darauf gefaßt, daß er bei der Erwähnung des ominösen Wertes Ruhr wieder so erregt aufbrausen würde wie in der ersten großen Sitzung der Konferenz. Mit einer gewissen Überraschung stellte ich jedoch fest, daß er völlig ruhig blieb und daß sein Interesse auch bei den nachfolgenden Ausführungen Stresemanns nicht geringer wurde und sich in seinen Mienen keinerlei Ablehnung widerspiegelte. Im Gegenteil, von Zeit zu Zeit nickte er sogar zustimmend oder sagte auf deutsch „Ja“ zu diesem oder jenem Punkt.
Stresemann hatte also offenbar die richtige Taktik gewählt. Als er sah, daß Herriot sich der Erörterung dieser Fragen in einem Gespräch von Mann zu Mann nicht entziehen wollte, ergriff er die Gelegenheit mit beiden Händen und gab Herriot ein umfassendes Bild der politischen Lage in Deutschland. In solchen Situationen erwies sich Stresemann immer als Meister. Je länger er sprach, desto mehr erwärmte er sich für die Gedankengänge, die ihm am Herzen lagen, und um so klarer und eindringlicher wurden die Formulierungen, die er zu den einzelnen Punkten fand.
Er schilderte die Gefühle, die die Ereignisse an der Ruhr im deutschen Volk wachgerufen hatten, und zeigte an einzelnen Beispielen, wie sehr ihm die Rechtsopposition unter Ausnutzung dieser natürlichen patriotischen Aufwallung schon während der Vorverhandlungen über das Dawes-Abkommen immer neue Schwierigkeiten bereitet habe. Deshalb müsse hier in London unter allen Umständen gleichzeitig mit der Reparationsvereinbarung auch die Aufhebung der Besetzung des Ruhrgebietes beschlossen werden.
Stresemann hütete sich als geschickter Politiker wohl davor, in diesem Augenblick auf die Rechtsfrage einzugehen. Denn daß der Ruhreinfall Poincarés eine Verletzung des Versailler Vertrages bedeutete, hatte man nicht nur bei uns in der Pressepolemik gegen Frankreich festgestellt, es war auch in der Note des konservativen englischen Außenministers, Lord Curzon, Anfang des Jahres den Franzosen bescheinigt worden. Wie sich später herausstellte, vertrat auch Herriot den Standpunkt, daß die Ruhraktion zu Unrecht erfolgt war. Daß Stresemann es vermied, dieses für Frankreich ungünstige Moment hier zu erwähnen, zeigte den großen Taktiker im hellsten Licht. Es hat bei so delikaten Verhandlungen keinen Zweck, dem Partner gleich von vornherein sein ganzes, von ihm selbst im Innern vielleicht längst erkanntes Unrecht vorzuhalten und dadurch lediglich eine menschlich verständliche Widerstandsregung hervorzurufen.
Herriot stellte den deutschen innerpolitischen Schwierigkeiten Stresemanns die Opposition im eigenen Lager, in der französischen Kammer und sogar in der eigenen Regierung, besonders von seiten des französischen Kriegsministers, entgegen.
„Ich habe überhaupt nur an der Londoner Konferenz teilnehmen können“, fügte Herriot temperamentvoll hinzu, „weil ich in der Kammer und im Senat versprach, daß hier in London von der Ruhr und von politischen Dingen nicht gesprochen würde. Es sollte nur ein Beschluß über die Durchführung des Dawes-Planes gefaßt werden.“
„Eine eigenartige Konferenz, auf der vom Thema nicht gesprochen werden darf“, warf Stresemann sarkastisch ein, aber Herriot störte sich nicht an diesem ironischen Zwischenruf, sondern fuhr fort: „Dieses Versprechen glaubte ich ohne weiteres abgeben zu können, weil mir MacDonald bei unserer Zusammenkunft in Chequers ausdrücklich versichert hatte, daß die Ruhr auf der Londoner Konferenz mit keinem Wort erwähnt werden würde.“
Stresemann schüttelte den Kopf. „Sie können sich mein Erstaunen vorstellen“, sprach Herriot weiter, „als am zweiten Tage nach Eröffnung der Verhandlungen in London MacDonald mir in einer Verhandlungspause unversehens auf die Schulter klopfte und mich fragte, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt:,Was machen wir nun mit der Ruhr, Herr Herriot?’ Ich wäre fast zu Boden gesunken vor Überraschung.“
Herriot hatte sich warm geredet bei der Schilderung dieses Zwischenfalles und stellte nun in sehr temperamentvoller Weise die Schwierigkeiten dar, auf die er sich in Frankreich gefaßt machen müsse, wenn er trotz des abgegebenen Versprechens Zugeständnisse in der Frage der Ruhrräumung machen würde.
„Die unausbleibliche Folge wäre der Sturz meiner Regierung. Und damit wäre der Sache des Friedens und der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland ein schlechter Dienst geleistet, denn mein Nachfolger wäre entweder Poincaré, der schon jetzt eifrig gegen mich arbeitet, oder ein anderer, ihm geistesverwandter Politiker der Rechten.“
Diese anscheinend unabänderlich negative Reaktion Herriots wirkte auf Stresemann wie ein kalter Wasserstrahl. Jetzt aber zeigte sich seine zweite große Eigenschaft. Er ließ sich auch von einem anscheinend unüberwindlichen Hindernis nicht abschrecken. Beharrlich bemühte er sich immer von neuem, seinem Ziel näherzukommen. Insofern war diese grundlegende Aussprache mit dem französischen Ministerpräsidenten charakteristisch für Stresemanns gesamte Außenpolitik, so wie ich sie in den folgenden Jahren miterlebte.
Er versuchte auf einem anderen Wege bei Herriot Verständnis für die Notwendigkeit und die Möglichkeit eines Nachgebens in der Ruhrfrage zu gewinnen. Dieser hatte im Verlauf seiner Bemerkungen auf das ungeheure Mißtrauen hingewiesen, das in Frankreich immer noch gegenüber Deutschland herrschte, und hatte angedeutet, man müsse zunächst