Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Ausdruck in einem amtlichen Briefwechsel zwischen den beteiligten Delegationen. Als das Wichtigste aber erschien mir damals und erscheint mir heute noch das, worüber überhaupt keine schriftlichen Abmachungen getroffen wurden: die grundsätzliche Abkehr von der Methode des Diktates der Sieger über die Besiegten und die erstmalige Einführung eines neuen Verhandlungsverfahrens, indem sich sämtliche Beteiligten als Gleichberechtigte am Verhandlungstisch gegenübersaßen – wenn auch zunächst nur formell; aber auch das war schon ein großer Fortschritt und die unerläßliche Voraussetzung für die spätere Befriedung. – Nach der überreizten, kriegsähnlichen Atmosphäre, die der Ruhreinmarsch heraufbeschworen hatte, war damit trotz aller sachlichen Einschränkungen ein sehr bedeutender Schritt getan.
Wesentlich ergänzt wurde dieses Verfahren durch die erstmalige Aufnahme des persönlichen Kontaktes in ungezwungener Aussprache zwischen den verantwortlichen Staatsmännern. Was ich dabei auf der französischen Seite erlebte, hatte sich gleichzeitig, zwar in weniger dramatischer Form, aber doch im selben Geist, auch auf der englischen Seite in den Gesprächen abgespielt, die MacDonald und Kellogg mit den Deutschen geführt hatten. Es war tatsächlich die Morgendämmerung einer besseren Zeit in den internationalen Beziehungen am Horizont sichtbar geworden. Der Silberstreifen war trotz aller späteren Rückschläge und Vorbehalte keine Illusion gewesen.
Zu den Problemen, die damals in der Luft lagen, gehörte auch die Kriegsschuldfrage. Bekanntlich wurde Deutschland im Versailler Vertrage die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg aufgebürdet. Bald nach Versailles war in Deutschland und auch in der übrigen Welt Widerspruch gegen diese Schuld these erhoben worden, und zwar auf Grund von Dokumenten, die erst allmählich aus den geheimen Archiven der Kanzleien an die Öffentlichkeit gelangten. Die deutsche Regierung hatte ursprünglich die Annahme des Dawes-Planes dazu benutzen wollen, um gegen die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkriege Stellung zu nehmen. Es bestand die Absicht, diese Erklärung in der Schlußsitzung der Londoner Konferenz abzugeben. Die Schlußrede des Reichskanzlers Marx, die wir vorher übersetzt hatten, enthielt auch einen entsprechenden Passus.
Die deutsche Delegation, der wohl bekannt war, wie scharf die Reaktion der Alliierten auf eine amtliche deutsche Zurückweisung der Schuldthese sein würde, hielt es für erforderlich, zumindest MacDonald vorher zu informieren, um einen Zwischenfall und ein Scheitern der Konferenz im letzten Augenblick nach Möglichkeit zu verhindern. Denn auf dieser These von der Alleinschuld Deutschlands beruhte ja das ganze Gebäude des Nachkriegseuropas, wie es sich aus dem Versailler Vertrag ergab. Letzten Endes bildete sie auch die Grundlage für die mit so vieler Mühe unter Dach und Fach gebrachte Reparationslösung im Dawes-Plan.
So bereitete sich denn Marx darauf vor, MacDonald am letzten Tage der Konferenz, am 16. August, noch unter vier Augen zu informieren. An diesem Tage jagte jedoch eine Besprechung die andere. Es war den ganzen Tag über einfach nicht möglich, MacDonald allein zu sprechen. Immer näher rückte die für 6 Uhr nachmittags im englischen Auswärtigen Amt angesetzte Schlußsitzung. Marx beabsichtigte, MacDonald noch kurz vor deren Eröffnung über sein Vorhaben ins Bild zu setzen. So fuhren wir denn etwas früher in das Foreign Office. Hier stellte sich jedoch heraus, daß die Alliierten bereits seit einiger Zeit in einem anderen Raum unter sich berieten, so daß sich wieder keine Gelegenheit zu einer Aussprache ergab. Die Sitzung der Alliierten zog sich länger, als erwartet, hin; dadurch begann die Schlußkonferenz erst geraume Zeit später als vorgesehen. Natürlich war nun nicht mehr daran zu denken, MacDonald gewissermaßen zwischen Tür und Angel über diesen wichtigen deutschen Schritt ins Bild zu setzen.
Inzwischen hatten wir von einigen nicht an der alliierten Beratung teilnehmenden Engländern gehört, daß in der Schlußsitzung nur die Unterzeichnung des Vertragswerkes vorgenommen werden würde und daß MacDonald als einziger eine Schlußrede halten sollte.
Die drei deutschen Hauptdelegierten berieten sich wegen dieser neuen Lage kurz in einer Ecke des Konferenzsaales. Nun würde ja Marx gar nicht mehr sprechen können und auch seine Erklärung in der Schuldfrage nicht loswerden. Es wurde also beschlossen, die Aktion auf später zu verschieben und die Erklärung bei Annahme des Dawes-Abkommens durch den Reichstag abzugeben. Dies sei, so hörte ich Stresemann sagen, vielleicht ein geeigneterer Augenblick, da er die Gefahr von unangenehmen Reaktionen der Gegenseite praktisch ausschließe.
Wenige Minuten danach war die alliierte Besprechung zu Ende, und die Schlußsitzung der Londoner Konferenz begann. Sie war wie so viele andere Schlußsitzungen, die ich später noch mitmachte, alles andere als feierlich. Monoton verlas Sir Maurice Hankey, der englische Generalsekretär der Konferenz, einige technische Erläuterungen für die Paraphierung des Abkommens„ das in einem vom 16. August datierten Protokoll vorlag. In diesem wurde festgestellt, daß alle beteiligten Regierungen und die Reparationskommission die Annahme des Sachverständigenplans bestätigt und seiner Ingangsetzung zugestimmt hätten. Vier Abkommen zur Durchführung des Planes waren als Anlagen dem Protokoll angeschlossen.
Gleichzeitig mit dem Protokoll und seinen Anlagen wurde ein Schriftwechsel zwischen Frankreich und Belgien einerseits und Deutschland andererseits über die militärische Räumung des Ruhrgebietes veröffentlicht. In diesem wurde zwar die Maximalfrist von einem Jahre beibehalten, in einem zweiten Schreiben Herriots und der Belgier aber wurde die militärische Räumung der Zone Dortmund-Hörde und der seit dem 11.Januar 1923 außerhalb der Ruhr besetzten Gebiete für den Tag nach der Unterzeichnung des Londoner Abkommens vorgesehen.
In einem ebenfalls unter dem Datum des 16. August 1924 veröffentlichten Brief MacDonalds an die Ministerpräsidenten Frankreichs und Belgiens, der dem deutschen Reichskanzler offiziell in Abschrift zugestellt wurde, erklärte dazu noch die britische Regierung, daß sie „mit allem Nachdruck darauf dringe, daß die beteiligten Regierungen jeden nur möglichen Schritt tun, um die Räumung zu beschleunigen, da nach Ansicht der britischen Regierung die Aufrechterhaltung der Besetzung die Durchführung des Dawes-Planes beeinträchtigen und die Abmachungen gefährden könnte, die auf der Londoner Konferenz vereinbart worden sind“.
Mit besonderem Interesse las ich gerade diese Sätze damals am letzten Tage der Konferenz. Zeigten sie mir doch, welch weiten Weg die deutsche Delegation unter Stresemanns Führung seit der Eröffnung der Konferenz zurückgelegt hatte, als „über das eigentliche Thema überhaupt nicht gesprochen werden durfte“.
Nach den nüchternen, technischen Ausführungen von Sir Maurice Hankey ergriff MacDonald das Wort zur Schlußrede. „Meine Freunde!“ redete er die Konferenzteilnehmer an, „ich möchte Sie und uns zum erfolgreichen Abschluß der gemeinsamen Arbeiten beglückwünschen.“ „Könnte sich wohl“, fuhr er fort, „irgend jemand das Unheil vorstellen, das geschehen wäre, wenn unsere Konferenz keinen Erfolg gehabt hätte? Wir haben am heutigen Tage das erste durch Verhandlungen zustande gekommene Abkommen seit dem Kriege erzielt. Wir haben versucht, einander so weit entgegenzukommen, wie es uns die öffentliche Meinung der verschiedenen Länder gestattete.“
In diesem auf Freundschaft und Frieden abgestellten Ton, der MacDonald offensichtlich von Herzen kam, fuhr er noch eine Weile lang fort. Nach einem Ausblick auf die gleichfalls noch durch internationale Vereinbarungen zu lösenden Probleme der interalliierten Schulden, der Abrüstung und der Sicherheit im Rahmen des Völkerbundes schloß er mit folgenden Worten: „Das Allerwichtigste jedoch ist heute, daß wir sicher sind, uns auf dem rechten Wege zu befinden. Ich glaube, daß wir ihn in unseren Beratungen gefunden haben, und, wie lange oder wie kurz die Herrschaft jedes einzelnen von uns sein mag – wir sind nichts als Strohhalme im Wirbel der öffentlichen Gunst –, wir haben allen Grund, stolz darauf zu sein, daß wir das Glück hatten, an dieser historischen Konferenz teilzunehmen, die eben im Begriff ist, so erfolgreich zu enden.“
Wir erwarteten nun, daß zur Paraphierung der Texte geschritten würde, aber zu unserer Überraschung meldete sich noch Herriot zum Wort. Zuerst sah es so aus, als wolle er lediglich im Namen sämtlicher Delegierten MacDonald und der englischen Regierung für deren Gastfreundschaft und für die tatkräftige Mithilfe beim Zustandekommen der Vereinbarungen danken. Dann aber sprach er eine ganze Weile nur Von Frankreich und stellte die schon während der Konferenz vertretenen Thesen wirksam und beredt dar.
„Zwar haben wir nicht alle Fragen lösen können, aber wir sehen schon heute die Morgenröte, die den neuen Tag ankündigt, heraufsteigen und wir