Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
besonders die letzte Äußerung war, so brachte die Tatsache, daß nun doch außer MacDonald einer der Delegationsführer das Wort ergriffen hatte, die deutsche Delegation in einige Verlegenheit. Sollte nun Marx auch seinerseits noch seine vorbereitete Rede halten? Bestand nicht die Gefahr, daß die Erklärung über die Kriegsschuldfrage einen Eklat herbeiführen würde?
Die drei Hauptdelegierten Deutschlands steckten die Köpfe zusammen. Von seinem Platz hinter ihnen beteiligte sich Herr Schubert mit hochrotem Gesicht an der, wie ich aus der Ferne zu bemerken glaubte, offenbar recht erregten Unterhaltung.
Inzwischen hatten sich auch noch die Amerikaner, die Belgier und die Italiener zum Wort gemeldet. Von ihren Ausführungen ist mir heute nichts mehr erinnerlich, was irgendwie bemerkenswert wäre. Nun aber blieb Marx nichts weiter übrig, als seine Rede zu halten. Er meldete sich zum Wort und betonte, welch schweren Entschluß die Annahme des Dawes-Planes für die deutsche Regierung bedeute. Als Jurist begrüßte er die wichtige Rolle, die dem Schiedsgerichtsverfahren in den Abkommen zugewiesen worden sei, und gab zum Schluß seiner Genugtuung über den hohen Geist des Friedens und der Versöhnlichkeit Ausdruck, der auf der Konferenz gewaltet habe. Seine Ausführungen fanden wiederholt lebhaften Beifall, besonders bei den Engländern und Amerikanern. Ich wartete interessiert auf die Aufnahme, die die Distanzierung von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands finden würde, aber ich wartete vergeblich. Marx setzte sich wieder auf seinen Platz. Er hatte die kritischen Sätze weggelassen.
Nach ihm übersetzte Michaelis ins Englische und Französische. Er machte seine Sache hervorragend. Auch den ruhigen Ton von Marx traf er sehr gut. Wieder folgte bei beiden Fassungen starker Beifall, immer ein gutes Zeichen für die Qualität der Übersetzung. Michaelis hatte gut aufgepaßt – auch er ließ den in der vorbereiteten Rede enthaltenen Passus über die Schuldthese weg.
Dann traten die einzelnen Delegierten nacheinander an die Tische auf der einen Seite des großen Sitzungssaales, von dem aus man über den Green Park bis in den Hyde Park hineinsehen konnte. Die Vertragsdokumente wurden paraphiert. Länger als eine halbe Stunde dauerte es, bis der letzte Delegierte seine Initialen daruntergesetzt hatte. Dann schloß MacDonald die Sitzung, und meine erste Großkonferenz war zu Ende.
Noch am selben Abend reiste die deutsche Delegation nach Berlin zurück. Ich selbst glaubte damals die Gelegenheit wahrnehmen zu müssen, im Anschluß an London auch der Hauptstadt Frankreichs einen Besuch abzustatten. „Wer weiß, wann sich eine solche Möglichkeit wieder einmal ergibt“, hatte ich zu dem Leiter des Sprachendienstes gesagt, der mir diese Reise ermöglichte. Darin hatte ich mich gründlich getäuscht. Denn schon im Herbst desselben Jahres begleitete ich die deutsche Wirtschaftsdelegation nach Paris, die dort mit Unterbrechungen drei volle Jahre über einen Handelsvertrag mit den Franzosen verhandelte, so daß ich reichlich Gelegenheit hatte, die Hauptstadt Frankreichs und ihre Bewohner kennenzulernen.
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MORGENRÖTE IN LOCARNO (1925)
In seinem Schlußwort auf der Londoner Konferenz hatte Herriot zwar schon die Morgenröte erblickt, die den neuen Tag ankündigte, aber die Wirklichkeit sah in den Wochen, die unmittelbar auf die Konferenz folgten, erheblich anders aus. Die Überschwenglichkeit der Stimmung unter den Delegierten, als die mühevolle Arbeit der Londoner Tage und Nächte nun endlich ihren Abschluß gefunden hatte, war den harten Realitäten des politischen Lebens in Frankreich und Deutschland gewichen.
Ich selbst wurde einige Zeit nach meiner Rückkehr aus Paris Mitglied einer Delegation, die in Koblenz mit den Alliierten über die Anwendung der Londoner Beschlüsse auf die Liquidation des Ruhrabenteuers zu beraten hatte. Der Unterschied zwischen der freundlichen Atmosphäre in London und der herablassend feindlichen Haltung, die die Vertreter der alliierten Besatzungsbehörden in Koblenz den deutschen Delegierten gegenüber einnahmen, wirkte auf mich wie ein kalter Wasserstrahl. Ich erfuhr hier zum ersten Male, wie weit der Weg von den obersten Spitzen eines Landes bis zu den unteren Organen ist. Hier in Koblenz herrschte noch der Geist Poincarés in reinster Form. Mit der Zigarette zwischen den Lippen blickten uns unsere französischen und belgischen Gesprächspartner mit eisiger Ablehnung an, und auch die Engländer verhielten sich nicht viel freundlicher.
Es war ein eigenartiges Gefühl für mich, im eigenen Lande von Ausländern als unerwünschter, höchstens geduldeter Gast behandelt zu werden, wenn ich mit den übrigen Delegierten das von den Besatzungsbehörden in Koblenz zum Verhandlungsort bestimmte Gebäude des Oberpräsidiums betrat. Nicht wie in London am runden Tisch saßen hier die Deutschen als Gleichberechtigte den anderen gegenüber. Hier war wieder alles streng nach Siegern auf der einen Seite des Tisches und Besiegten auf der anderen eingeteilt. Dem entsprach auch der Geist, in dem die Verhandlungen geführt wurden. Es war eine eigenartige „Morgenröte“. Mit unendlicher Mühe und Geduld mußte hier von deutscher Seite den Besatzungsvertretern Schritt für Schritt erneut das abgerungen werden, was in London unter den Großen beschlossen worden war.
Nach drei Wochen Koblenz wurde ich eines Tages überraschend nach Paris zur deutschen Handelsvertragsdelegation versetzt und verschwand damit für lange Zeit aus Berlin. Diese deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen waren ebenfalls ein Kind der Londoner Konferenz. Ganz unbemerkt neben den großen Ereignissen war hier eines Nachmittags im Hyde Park Hotel, dem Sitz der französischen Delegation, in einer Besprechung zwischen Stresemann und Staatssekretär Trendelenburg aus dem Reichswirtschaftsministerium auf deutscher Seite und Herriot, Clémentel und dem Ministerialdirektor Seydoux von der Außenhandelsabteilung des französischen Außenministeriums der erste Schritt zur Ausgestaltung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen getan worden. Er führte 1927 nach dreijährigen Verhandlungen zu dem großen deutschfranzösischen Handelsvertrag, der nicht nur für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Nachbarländern, sondern auch für die gesamte Wirtschaftsentwicklung Europas von ausschlaggebender Bedeutung wurde. In diesen jahrelangen Verhandlungen, über die später noch mehr zu sagen sein wird, wurde auch der Grundstein für die Industrievereinbarungen gelegt, die in den 20er und 30er Jahren die privatwirtschaftliche Struktur einer ganzen Reihe wichtiger Industriezweige Europas bestimmten.
Zunächst aber gab mir Paris Gelegenheit, die Schwierigkeiten zu beobachten, die Herriot in Frankreich zu überwinden hatte, um die Londoner Beschlüsse, und besonders die so schwer erkämpfte Ruhrlösung, durchzuführen.
In der Kammer fand Herriot oft recht scharfe Worte gegen Deutschland; er schien plötzlich ein anderer Herriot zu sein als der Mann, den ich von der Londoner Konferenz her in Erinnerung hatte. „Er kämpft um die Existenz seiner Regierung“, erklärten mir die Franzosen von der Handelsdelegation. Ich verstand beim Lesen der wilden Vorwürfe, die wegen seiner Zugeständnisse in der Ruhrfrage in großen Teilen der Pariser Presse gegen ihn erhoben wurden, jetzt die Bedenken besonders gut, die er in London Stresemann gegenüber wegen der innerpolitischen Opposition in Frankreich geäußert hatte. Hier in Paris konnte ich mir auf einmal die in London etwas eigenartig wirkende Unruhe und sein gelegentliches temperamentvolles Aufbrausen erklären. Er hatte damals schon gewußt, was für ein Sturm sich bei seiner Rückkehr nach Frankreich erheben würde.
Genau derselbe Sturm entstand auch in Deutschland gegen Marx und Stresemann wegen der Londoner Vereinbarungen. Nur mit Mühe wurde das Dawes-Abkommen im Reichstag durchgebracht. Eine etwas eigenartige Rolle spielten dabei die Deutschnationalen, die sich auf Veranlassung der Parteileitung bei der Abstimmung in Neinsager und Jasager teilten, um ihren grundsätzlich ablehnenden Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, trotzdem aber die Regierung nicht zu gefährden, wodurch den Sozialdemokraten der Weg ins Kabinett frei geworden wäre. Diese Farce war natürlich ein gefundenes Fressen für die Pariser Kabarettisten, wie überhaupt von Paris aus die Vorgänge in Deutschland in einer ganz neuen Perspektive erschienen und manches klarer zu erkennen war als von Berlin aus.
Anfang Februar 1925 wurde ich eines Abends überraschend auf die deutsche Botschaft bestellt. Auf Weisung des Staatssekretärs von Schubert, der mich persönlich zu allerstrengstem Stillschweigen verpflichtete, mußte ich noch am selben Abend in der Botschaft eine Note übersetzen. Sie sollte trotz der Abwesenheit des Botschafters unverzüglich Herriot übergeben werden. Das Schriftstück umfaßte nur wenige Seiten. Es war aber eines der für