Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Räumung der Ruhr verbunden und dabei gleichzeitig auf die Befürchtungen Frankreichs wegen der nationalistischen Tendenzen in der deutschen Innenpolitik hingewiesen.
Stresemann erwiderte schlagfertig, das beste Mittel, den nationalistischen Bestrebungen in Deutschland entgegenzuarbeiten, bestehe für Frankreich darin, Deutschland gegenüber eine vernünftige Politik zu verfolgen, wodurch den nationalistischen Elementen das Wasser abgegraben werde. Er zeigte, wie stark in Deutschland die Kräfte seien, die einer deutsch-französischen Verständigung positiv gegenüberstünden. Er wies insbesondere auf die Haltung der deutschen Industriellen hin, die trotz der Agitation Hugenbergs in ihrer großen Mehrheit für die Annahme des Sachverständigengutachtens eingetreten seien. Die Elemente der Vernunft und der Verständigung hielten in Deutschland den nationalistischen Strömungen durchaus die Waage. Es sei das klügste, was Frankreich tun könne, diesen vernünftigen Elementen durch eine geeignete Politik zu einem Übergewicht zu verhelfen.
In diesem Zusammenhang kam Stresemann auf die Gesten zu sprechen, die Frankreich ohne große Opfer Deutschland gegenüber machen könne, und deren Wirkung im Reich sehr nachhaltig sein würde. Auch hierbei handele es sich in erster Linie um die Liquidation des Ruhrunternehmens. Einer der wichtigsten psychologischen Faktoren sei dabei eine Amnestie für die sogenannten Ruhrverbrecher, die von Militärgerichten abgeurteilt worden seien.
In diesem Punkt erklärte sich Herriot ohne weiteres zu einer Geste bereit. Es war charakteristisch für seine menschliche Einstellung und zeigte sein wirkliches Verständnis für die Lage, daß er wörtlich dazu bemerkte: „Ich liebe Frankreich und ich liebe jeden, der für Frankreich kämpft; deshalb habe ich volles Verständnis dafür, daß Deutschland für jeden eintritt, der im Ruhrkampf für Deutschland gekämpft hat.“
Wer das Kernproblem der Liquidation der Ruhrunternehmung auf rein menschlichem Gebiet so klar erkannt hat und es offen zugibt wie dieser Franzose, dachte ich mir bei diesen Worten, der ist in seinem Innern sicherlich ebenso wie Stresemann von der Notwendigkeit überzeugt, gleichzeitig mit dem Dawes-Abkommen auch eine Vereinbarung über die Ruhrräumung zu treffen. Dies genau so offen auszusprechen wie sein Einverständnis in der Amnestiefrage, hinderten ihn wohl nur die Schwierigkeiten im eigenen Lager. Herriot war ein „homme de bonne volonté“, aber er fühlte sich nicht stark genug und war zu sehr in das Spiel der französischen Parteien verwickelt, als daß er sofort eine kühne Initiative hätte ergreifen können, um das von ihm als notwendig Erkannte durchzusetzen.
Zwei Stunden zog sich dieses wahrhaft historische Gespräch in Rede und Gegenrede hin. Immer wieder und mit immer eindringlicheren Argumenten ging Stresemann zum Angriff vor. Man merkte deutlich, wie er mit jedem Male überzeugender auf Herriot wirkte, der sich jedoch stets von neuem hinter der Opposition im eigenen Lager verschanzte; besonders der Name des Kriegsministers Nollet, des früheren Leiters der alliierten Kontrollkommission in Deutschland, fand dabei wiederholt Erwähnung.
Offensichtlich fühlte sich Herriot zu unsicher, um irgend etwas Positives zuzusagen. Während sich das Gespräch immer länger ausdehnte, sank die Temperatur von Viertelstunde zu Viertelstunde merklich. Herriot wurde immer nervöser, weil er die mit steigendem Nachdruck von Stresemann geforderte Räumung des Ruhrgebietes nicht zugestehen konnte, und Stresemann wurde seinerseits immer ungeduldiger, weil er so gar keine konkrete Wirkung seiner Worte verspürte.
Schließlich geriet das Gespräch vollends ins Stocken, minutenlang saßen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Nicht etwa, daß sie sich im Laufe des Gespräches auseinandergeredet und sich persönlich entzweit hätten. Ganz im Gegenteil, menschlich waren sie sich beide sicherlich nähergekommen. Denn sie hatten ohne Umschweife in aller Offenheit nicht als Politiker, sondern als Männer, die um den europäischen Frieden besorgt waren, miteinander geredet, hatten dabei aber erkennen müssen, wie fast hoffnungslos groß die Schwierigkeiten waren, die sich ihnen entgegenstellten.
Am Ende einer solchen Gesprächspause holte Herriot auf einmal tief Luft, so, als habe er sich zu einem schweren Entschluß durchgerungen. Ich fürchtete schon, er wolle Stresemann sagen, er müsse leider einsehen, daß sie beide nicht in der Lage seien, über die Ruhrräumung eine Einigung zu erzielen, und daß es besser sei, die Unterredung abzubrechen.
Zu meiner Überraschung aber trat genau das Gegenteil ein. Irgendwie ungehemmter und befreiter, redete sich Herriot die ganze Abneigung von der Seele, die er von vornherein gegen das Ruhrabenteuer empfunden hatte. Er sei sich darüber klar, daß die jetzige Stimmung in Deutschland, über die sich Frankreich so beunruhige, letzten Endes das Werk Poincarés sei, und er stimme Stresemann durchaus darin zu, daß man durch eine vernünftige Politik die nationalistische Haltung gewisser deutscher Kreise am besten eindämmen könne. In dieser Erkenntnis wolle er daher Stresemann zusagen, daß er sich nach Paris begeben werde, um dort seinen ganzen Einfluß zugunsten einer Räumung des Ruhrgebietes, von deren Notwendigkeit er selbst überzeugt sei, geltend zu machen. Es sei durchaus ungewiß, mit welchem Erfolg er aus Paris zurückkehren werde; vielleicht werde er überhaupt nicht zurückkommen, weil er mit der Möglichkeit rechne, bei dem Vorschlag einer Ruhrräumung oder der bloßen Andeutung, daß er mit Stresemann trotz seiner gegenteiligen Zusage über diese Frage gesprochen habe, gestürzt zu werden.
„Auf jeden Fall verspreche ich Ihnen aber, Herr Stresemann, daß ich alles in meinen Kräften Stehende tun werde, Ihren begreiflichen Wunsch nach irgendeiner Abmachung über die Ruhrräumung zu erfüllen und Ihnen dadurch Ihre Stellung gegenüber Ihren eigenen Landsleuten zu stärken“, fügte er ernst hinzu. Man glaubte ihm ohne weiteres, daß er dieses Versprechen halten würde, sah ihm aber gleichzeitig die Besorgnis an, die er wegen des zu erwartenden Kampfes in Paris hegte.
Bei diesen Worten hellte sich die vorher recht düster gewordene Atmosphäre der Unterredung zusehends auf. Mir fiel das Wort von dem Silberstreifen wieder ein. Es zeigte sich tatsächlich ein erster Hoffnungsschimmer am Horizont. In Deutschland hatte man angesichts der Ereignisse des letzten Jahres und der französischen Politik seit Beendigung des Krieges die Franzosen im Unterbewußtsein immer irgendwie als einer Einigung mit Deutschland abgeneigt angesehen. Nun hatte sich innerhalb von zwei Stunden bei diesem Franzosen, der uns hier gegenübersaß, das Gegenteil herausgestellt. Das war etwas, was mich mit großer Hoffnung für die Zukunft erfüllte. Daß diese Erwartungen nicht unberechtigt waren, zeigten nicht nur die nächsten Tage auf der Londoner Konferenz, sondern auch die nächsten Jahre der deutsch-französischen und europäischen Politik. Dieses wahrhaft historische erste Gespräch bewies mir, daß selbst größte Schwierigkeiten von Männern guten Willens überwunden werden können. Bildete doch diese Aussprache hinter den verschlossenen Türen des englischen Automobilclubs in London den ersten Auftakt zu jener glücklichen Entwicklung in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, die gegen Ende der 20er Jahre ihre konkreten Ergebnisse zeitigte. Unbeachtet von der großen Öffentlichkeit wurde in dieser Stunde der Grundstein für das spätere europäische Gebäude gelegt.
Aber auch die „Eingeweihten“, ja selbst die deutsche Delegation in London wußten zunächst nichts davon. Auf dem Rückweg ins Ritz-Hotel, den wir diesmal ohne Umwege im Wagen zurücklegten, erteilte mir Stresemann den Auftrag, eine Aufzeichnung über das Gespräch auf Grund meiner Dolmetschernotizen anzufertigen und mit niemandem, auch nicht mit dem Reichskanzler, über das Vorgefallene zu sprechen. Ich durfte meine Aufzeichnung auch nicht diktieren, sondern mußte sie mit eigener Hand niederschreiben. Stresemann wollte die zarte Pflanze der neuen Verständigungspolitik, die an die Stelle der reinen Gewaltpolitik treten sollte, vor allen schädlichen Einwirkungen schützen. Er selbst war von dem Gespräch hoch befriedigt.
So saß ich denn am Abend jenes Augusttages in einem kleinen Zimmer im obersten Stockwerk des Ritz-Hotels, von dem aus der Blick weit über die Dächer Londons schweifte. Ich war tief beeindruckt von der Aufgabe, die mir anvertraut worden war, von dem plötzlichen Hineingestelltsein in die große Politik, und füllte Seite um Seite meiner ersten außenpolitischen Aufzeichnung, auf die noch unzählig viele andere in den nächsten 21 Jahren folgen sollten.
Als ich 1939 in das Ministerbüro versetzt wurde und in den Panzerschränken des historischen Zimmers der „grauen Eminenz“ in der Wilhelmstraße 76 herumstöberte, fand ich auch diese erste eigenhändige Aufzeichnung wieder. Die reichlich ungelenken Ausführungen, die ich damals als Anfänger in London niedergeschrieben