Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945 - Paul  Schmidt


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Weltkrieg Aufzeichnungen anzufertigen hatte. Und das unerwartete Wiedersehen mit der hoffnungsvollen Zeit zu Beginn der Ära Stresemann bestärkte das Gefühl für die herannahende Katastrophe, das sich mir seit 1933 immer mehr aufgedrängt hatte.

      Herriot begab sich tatsächlich an einem der nächsten Tage nach Paris. Der Finanzminister Clémentel und der Kriegsminister Nollet begleiteten ihn. Von der Fühlungnahme zwischen Herriot und Stresemann war auch nicht das geringste in die Öffentlichkeit durchgesickert, aber mit jenem feinen Witterungsvermögen, das ich bei den großen Journalisten, mit denen ich in der Folgezeit so oft zusammengekommen bin, immer bewundert habe, schrieb die englische Presse sehr treffend, daß von Herriots Reise nach Paris Erfolg oder Mißerfolg der Konferenz abhinge. Wie gut die Presse informiert war, ersah ich mit Staunen aus der Meldung einer Nachrichtenagentur, in der klipp und klar ausgesprochen wurde, daß zwischen Herriot und seinem Kriegsminister Nollet ein schwerer Konflikt in der Frage der Räumung des Ruhrgebietes ausgebrochen sei. Nollet habe sich scharf gegen jede derartige Maßnahme ausgesprochen und wolle die Räumungsfrage mit der Militärkontrolle verknüpfen, um auf diese Weise Zeit zu gewinnen.

      Daß ich voller Spannung alle Nachrichten aus Paris verfolgte, war nur natürlich. Sprechen durfte ich ja mit niemand über das, was mich bewegte, und so hatte ich um so mehr Zeit zum Nachdenken. Wie recht Herriot in seiner Beurteilung der kritischen Situation seines Kabinetts in Frankreich gehabt hatte, erfuhr ich einen oder zwei Tage nach der Unterredung aus der Äußerung eines französischen Delegationsmitgliedes, mit dem ich in einer Verhandlungspause ins Gespräch kam.

      Solche Gespräche waren nicht selten. Die jüngeren Mitglieder der französischen Delegation waren zu mir nicht nur in London, sondern auch bei späteren Gelegenheiten immer außerordentlich freundlich. Ich war nach meiner Arbeit auf der Konferenz gewissermaßen in die „Familie“ der technischen Mitarbeiter der einzelnen Delegationen aufgenommen worden. Genau so wie unsere Chefs trafen auch wir Kleineren und Kleinsten uns in der Folge immer wieder an den verschiedensten Stellen Europas zu gemeinschaftlicher Arbeit. Man wurde immer näher mit den einzelnen Sekretären und Sachverständigen der anderen Delegationen bekannt, man tauschte ungezwungen kritische Bemerkungen über die hohen Minister aus, und es bildete sich eine richtiggehende internationale Kameradschaft zwischen uns heraus. Im Laufe der Zeit gehörte ich mehreren solcher internationalen Familien an, deren Mitglieder sich in fast regelmäßigen Zeitabständen trafen.

      Da war zunächst die Reparationsfamilie, wie ich sie zum ersten Male in London kennenlernte. Dann trat später eine allgemein politische Familie in Erscheinung, mit der ich zum ersten Male in Locarno und später beim Völkerbund in Genf auf den regelmäßigen Ratssitzungen und Vollversammlungen zusammentraf. Daneben bestand noch die Wirtschaftsfamilie, deren Mitglieder sich bei den Wirtschaftsverhandlungen und Weltwirtschaftskonferenzen begegneten, und den Abschluß bildete die mit Militärs stark durchsetzte Abrüstungsfamilie. Die Minister mochten kommen und gehen, aber die Sekretäre und die technischen Berater blieben meistens dieselben und bildeten auf diese Weise einen nicht zu unterschätzenden, internationalen Zusammenhalt, der durchaus den Namen einer Familie verdiente.

      Daß für mich persönlich außerdem noch ein starker Kontakt zu den Dolmetschern bestand, insbesondere später zu den hervorragenden Könnern des Völkerbundes in Genf, ist selbstverständlich. Aber auch hier fiel mir besonders angenehm das freundliche Entgegenkommen meiner ausländischen Kollegen auf, die mich, den Neuling und den Jüngsten in ihrem Kreise, unterstützten und mir in manchen beruflich schwierigen Augenblicken, an denen es nicht fehlen sollte, Mut zusprachen.

      Als damals in London bei solch einer „Familienunterhaltung“ einer der Sekretäre der französischen Delegation so ganz leichthin, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, erklärte: „Wer weiß, ob Herriot überhaupt aus Paris wieder zurückkommt“, konnte ich wegen meines Schweigegebotes das Gespräch natürlich nicht vertiefen und nach dem Warum fragen. Aber ich fürchtete, daß die pessimistische Voraussage von Herriot sich nun doch bewahrheiten würde. Mit Stresemann sprach ich in den ganzen Tagen nicht über die politische Lage oder den Verlauf der Konferenz. Er hatte den Kopf mit anderen Dingen zu voll, und ich war ja auch schließlich nur der Dolmetscher, mit dem er keine tiefgründigen Gespräche führen würde.

      Um so erfreuter war ich, als an einem der nächsten Tage ein Kommuniqué über die kritische Sitzung des französischen Ministerrates in Paris herauskam, in dem es hieß, daß das Kabinett dem Ministerpräsidenten Herriot „einmütig seine volle Zustimmung“ erteilt habe, und daß dieser sich bereits auf dem Rückweg nach London befinde.

      Die Konferenz hatte inzwischen mehrere Unterausschüsse gebildet, in denen die einzelnen technischen Fragen über die Durchführung des Dawes-Planes beraten wurden. Interessant erschien mir insbesondere der Einfluß, der sich von außenher, von seiten der Bankiers, geltend machte; sie sollten die Gelder für die Deutschland zu gewährende Anleihe aufbringen, welche zur Ingangsetzung des Dawes-Planes notwendig war. Diese nüchternen, unsentimentalen Rechner stellten dafür eine Reihe von Bedingungen auf, die lediglich von wirtschaftlichen und finanziellen Überlegungen diktiert waren und sich in vielen Punkten mit den deutschen Forderungen deckten.

      Auch die Bankiers hielten eine völlige Wiederherstellung der Souveränität des Reiches über das Ruhrgebiet für unumgänglich. Sie glaubten, das Risiko einer Anleihe nur dann übernehmen zu können, wenn die Ruhrindustrie wieder völlig frei und ungehindert arbeite und die Wirtschafts- und Finanzlage des Reiches wieder so weit stabilisiert würde, daß auch nach rein wirtschaftlichen Erwägungen eine Hergabe von Kapital vertretbar sei.

      Aber gerade diese Außerachtlassung der Imponderabilien schaffte wieder neue Schwierigkeiten. MacDonald erklärte einmal auf einer Sitzung, er werde als Führer einer Arbeiterregierung bei seiner Partei schwer in Mißkredit geraten, wenn sich herausstelle, daß er sich seine Handlungen von Kapitalisten habe vorschreiben lassen, und die Franzosen waren damals über die entgegengesetzte Auffassung dieser nüchternen Finanziers und Wirtschaftler hell empört, ähnlich wie im Jahre 1948 über die Entscheidungen der anglo-amerikanischen Wirtschaftssachverständigen in der Frage des Industrieniveaus und der großzügigeren Behandlung der gleichen Ruhrindustrie, um die es schon 1924 in London ging.

      Kurze Zeit nach der Rückkehr Herriots aus Paris kam es zu einer zweiten Unterredung zwischen ihm und Stresemann. Diesmal fand sie im Rahmen der Konferenz ohne große Geheimnistuerei in einem Zimmer des englischen Auswärtigen Amtes statt. Herriot verbreitete sich dabei erneut über die innerpolitischen Schwierigkeiten, die er in Frankreich bei seiner letzten Anwesenheit gehabt habe. Aber er hatte sein Versprechen gehalten. Der Ministerrat hatte ihn ermächtigt, über die Ruhrräumung zu sprechen und sogar feste Abmachungen darüber zu treffen! Es sei nicht leicht gewesen, die französische Regierung und die Vertreter der Parteien zu diesem Zugeständnis zu bewegen. Er habe es mit der Verpflichtung erkaufen müssen, darauf zu bestehen, daß die Räumung erst … in einem Jahr durchgeführt würde.

      Das war für Stresemann natürlich ein schwerer Schlag. „Ich muß Ihnen, Herr Herriot, zwar für Ihre Bemühungen in Paris danken. Sie haben das, was Sie mir vor einigen Tagen zusagten, gehalten, aber leider sehe ich keine Möglichkeit, mit Ihnen auf dieser Grundlage weiterzuverhandeln.“ Er erkenne die Schwierigkeiten der französischen Parlamentslage durchaus an. Aber wenn er sich vorstelle, daß er mit dieser Räumungsfrist vor den deutschen Reichstag treten solle, so sei er sicher, daß das ganze Londoner Abkommen abgelehnt werden würde. Die Folgen für Deutschland würden katastrophal sein, aber die Rückwirkungen würde auch Frankreich, ja ganz Europa zu spüren bekommen, Stresemann wurde bei diesen Ausführungen genau so temperamentvoll wie Herriot, wenn er von den Schwierigkeiten im eigenen Lande sprach. Seine Worte überstürzten sich, seine helle Stimme klang laut durch den Raum.

      Herriot erwiderte ebenso heftig, daß er gar nicht daran denken könne, kürzere Räumungsfristen zuzugestehen. Er habe ohnehin schon mit Nollet und Foch in Paris die heftigsten Zusammenstöße gehabt; man habe ihm vorgeworfen, seine eigenen Ministerkollegen hintergangen zu haben. Er sei überhaupt nur nach Paris gefahren, weil er eingesehen habe, daß in der Räumungsfrage etwas geschehen müsse. Auch MacDonald habe ihn übrigens genau so wegen der Ruhr bedrängt, aber es sei jetzt, nachdem er mit so vieler Mühe in Paris ein einigermaßen befriedigendes Ergebnis erzielt habe, für ihn eine große Enttäuschung,


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