Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Jahres stattfindenden Konferenz von Locarno zugrunde lag und dort zu dem sogenannten Rheinpakt und den Schiedsverträgen führte, durch die das Reich endgültig als moralisch gleichberechtigter Partner wieder in den Kreis der europäischen Nationen aufgenommen wurde.
„Deutschland könnte sich auch mit einem Pakt einverstanden erklären, der den gegenwärtigen Besitzstand am Rhein garantiert, indem die am Rhein interessierten Staaten sich gegenseitig verpflichten, ihren Besitzstand in diesem Gebiet zu achten und gemeinsam die Erfüllung dieser Verpflichtung garantieren“, so lautete u. a. dieser Vorschlag. Weiterhin war darin die Rede von einer Garantie der Entmilitarisierung des Rheinlandes und von Schiedsvereinbarungen zwischen Deutschland und den an einem solchen Pakt teilnehmenden Staaten.
Während ich diesen gewichtigen Text übersetzte und mir dabei allmählich klar wurde, warum ich so eindringlich auf seine Geheimhaltung verpflichtet worden war, kam der deutsche Geschäftsträger, Botschaftsrat Forster, von Zeit zu Zeit ins Zimmer, um nachzusehen, ob ich denn immer noch nicht fertig sei. Er war etwas aufgeregt, denn auch er war sich der Wichtigkeit des Augenblicks voll bewußt, wenn wir natürlich auch noch nicht ahnen konnten, welche Folgen sich aus diesem äußerlich so unscheinbaren Dokument ergeben sollten. Kaum hatte ich die letzte Seite beendet, als er die Note schon in seine Mappe steckte und sich in feierlichem Anzug mit Zylinder und schwarzem Mantel auf den Weg zu Herriot machte.
Ich blieb noch eine Weile in dem kleinen Zimmer der Botschaft nachdenklich sitzen. Wieder einmal war mir, wie so oft noch in späteren Jahren, eine Schweigepflicht auferlegt worden, und ich scheute mich etwas vor den neugierigen Fragen meiner Kollegen in der Botschaft und in der Wirtschaftsdelegation. Mir war in jenem Augenblick schon klar, daß es sich bei dieser Note um einen bedeutsamen deutschen Beitrag zur Lösung der sogenannten Sicherheitsfrage handelte, die neben den wirtschaftlichen Problemen (Reparationen) damals wie heute eines der Hauptthemen der internationalen Politik war.
Unwillkürlich gingen meine Gedanken zurück zu der Zeit um 1919, als Frankreich unter dem noch frischen Eindruck des ungleichen Stärkeverhältnisses gegenüber Deutschland begreiflicherweise nach Möglichkeiten Ausschau hielt, seine Sicherheit zu gewährleisten. So hatte es das linke Rheinufer als Zukunftssicherung verlangt. Auf der Pariser Friedenskonferenz hatten sich aber England und Amerika dieser Forderung, welche die Schaffung eines neuen Elsaß-Lothringens auf deutscher Seite bedeutete, widersetzt und nach langem Hin und Her Frankreich als Ersatz einen Garantievertrag angeboten. Im englischen Parlament war dieser Vertrag von dem Beitritt der Vereinigten Staaten abhängig gemacht worden. Als sich dann der amerikanische Kongreß ablehnend verhielt, fiel die Garantie völlig ins Wasser, und Frankreich hatte weder das linke Rheinufer noch den Schutz Englands und Amerikas erhalten.
Poincaré hatte mit seiner Ruhrbesetzung und der Förderung des Separatismus erneut den Versuch gemacht, Frankreichs Sicherheit durch Vorverlegung seiner Einflußgrenze nach Osten sogar noch über das linke Rheinufer hinaus zu festigen. Dieser Plan war aber am Widerstand der Deutschen und an der Ablehnung Englands gescheitert. Durch die Londoner Abmachungen von 1924 war Frankreichs Bemühungen in dieser Richtung praktisch ein unüberwindlicher Riegel vorgeschoben worden. Das hatte naturgemäß zu jenen Stürmen der Entrüstung gegen Herriot geführt, deren Niederschlag ich selbst in Paris in der Presse und in der Kammer miterlebt hatte. Zweifellos aber waren Herriot in London von den Engländern, genau so wie seinerzeit auf der Pariser Konferenz, Ersatzlösungen angeboten worden. Das hatte sich im Herbst 1924 auf der jährlichen Vollversammlung des Völkerbundes bestätigt, als von MacDonald das sogenannte Genfer Protokoll „zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten“ in einer aufsehenerregenden Rede vorgeschlagen wurde, der Herriot natürlich wärmstens sekundierte. In diesem Protokoll wurde die Sicherheitsfrage auf eine breite internationale Basis gestellt und nicht mehr allein durch das Versprechen Englands, Frankreich bei einem Angriff zu Hilfe zu kommen, gelöst.
Wieder aber hatte es im englischen Parlament Schwierigkeiten gegeben. Auch die englischen Dominions hatten sich gegen jede automatische Hineinziehung in europäische Streitigkeiten gewehrt, so daß dieser Versuch, Frankreichs Sicherheitswünsche zu befriedigen, ebenso fehlschlug. Das war die Lage im Februar 1924.
Auch auf deutscher Seite hatte man schon frühzeitig erkannt, daß viele der politischen Schwierigkeiten mit Frankreich behoben und dessen immer wieder hervortretende Bemühungen, seine Grenzen auf Kosten Deutschlands nach Osten vorzuschieben, abgewendet werden könnten, wenn man seiner begreiflichen Sorge um die Sicherheit auf andere Weise entgegenkäme.
So hatte die Regierung Cuno Ende 1922 zu diesem Zweck bereits vorgeschlagen, daß Deutschland und Frankreich gemeinsam mit anderen am Rhein interessierten Mächten sich gegenseitig verpflichten sollten, eine Generation lang ohne eine vorherige Volksbefragung keinen Krieg gegeneinander zu führen. Diese Verpflichtung sollte unter die Garantie der Vereinigten Staaten gestellt werden. Der Vorschlag wurde jedoch mit Hohn von Poincaré zurückgewiesen und war in seiner Begrenzung auf eine Generation und der etwas verdächtig wirkenden Verbindung des Krieges mit einer Volksbefragung auch nicht gerade glücklich formuliert gewesen.
Das alles kannte ich nur vom Hörensagen, d. h. ich hatte es in der Presse oder in Büchern gelesen. Eine persönliche Erinnerung war mir jedoch bei der Übersetzung der deutschen Note ebenfalls in den Sinn gekommen. Im September 1923 hatte Stresemann als Reichskanzler in Stuttgart eine viel beachtete außenpolitische Rede gehalten, die auch im Sprachendienst für die Auslandspresse übersetzt worden war, und zur Sicherheitsfrage folgendermaßen Stellung genommen:
„Da der Alpdruck Frankreichs vor einem etwaigen deutschen Angriff, so völlig töricht er uns erscheinen mag, noch heute weite Kreise der französischen öffentlichen Meinung beherrscht, haben unsere Botschafter und Gesandten in Paris, London, Rom und Brüssel mitgeteilt, daß Deutschland bereit sei, dem Sicherheitspakt der am Rhein interessierten Mächte beizutreten, sei es, daß er sich auf Abmachungen über die Vermeidung eines Krieges bezöge, sei es, daß er die Garantierung des gegenwärtigen Besitzstandes am Rhein zum Gegenstand hätte. Außerdem sei Deutschland, zur Bekundung seines Friedenswillens, bereit, mit allen Staaten Schiedsgerichtsverträge zu schließen, wie wir dies mit der Schweiz und Schweden bereits getan haben.“
Als ich mich an diese Sätze erinnerte, war mir an dem Februarabend auf der Botschaft in Paris, auch ohne daß ich im einzelnen über die Entstehungsgeschichte der deutschen Note unterrichtet war, sofort klar, daß der geistige Urheber Stresemann sein müsse, der mit jener Hartnäckigkeit, die ich in London so deutlich erlebt hatte, immer wieder von neuem versuchte, auf dem Wege der Befriedung Frankreichs vorwärtszukommen. Mir war damals unbekannt, daß Stresemann bei seinen Bemühungen von dem englischen Botschafter in Berlin, Lord D’Abernon, starke Anregungen empfangen hatte und daß dieser auch die ursprünglich recht ablehnende Haltung des damaligen Außenministers, Austen Chamberlain, ins Gegenteil zu verwandeln gewußt hatte.
Voller Spannung wartete ich in den nächsten Tagen auf ein Echo von Herriot. Der einzige, mit dem ich darüber sprechen konnte, war Botschaftsrat Forster; der aber konnte mir auch nichts sagen, denn Herriot hatte sich darauf beschränkt, die Note mehr oder weniger kommentarlos entgegenzunehmen und ihre Prüfung zuzusagen.
So kam mir dieser Vorgang allmählich wieder aus dem Sinn. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde von den Wirtschaftsverhandlungen gefangengenommen. Sie brachten mir sehr viel Arbeit. Nacheinander zogen sämtliche Sparten der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen auf industriellem und landwirtschaftlichem Gebiet an mir vorüber. Ich assistierte deutschen und französischen Wirtschaftsführern mit berühmten Namen wie Thyssen, Vögler, Citroën, Duchemin und Prominenten des Comité des Forges, die als Sachverständige zur Beratung über den sie besonders angehenden Verhandlungsabschnitt herangezogen wurden. Der weitaus wichtigere Teil der damaligen Pariser Gespräche waren jedoch die ebenfalls unter meiner Mitwirkung geführten privaten Unterhaltungen zwischen den deutschen und französischen Industriellen, die den Grundstein für die Zusammenarbeit in vielen Industrien legten und den Kristallisationspunkt für spätere mehrseitige Industrieverständigungen in Europa bildeten. Wenig berührt von den politischen Schwankungen, waren diese Abmachungen zwischen den einzelnen Industrien bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein wichtiger Faktor des europäischen Wirtschaftslebens und seiner Stabilisierung.
Ich mußte mich fast wie in der Schule auf jede dieser Verhandlungen