Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
übertrieben hätten. „Welch ein Widerspruch, wenn man auf der einen Seite die deutsche Reichswehr zu einer reinen Grenzpolizei machen will, andererseits aber die militärische Mitwirkung dieser Grenzpolizei an einem Kriege verlangt.“
Nach den Darlegungen Stresemanns, die fast dreiviertel Stunden in Anspruch nahmen und von mir in längeren Abschnitten übersetzt wurden, trat eine Stille ein wie nach einem heftigen Sturm. Der Reichsaußenminister hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Er war in eine ziemliche Erregung geraten, und seine Lautstärke hatte sich zu meiner Freude so erhöht, daß ich mühelos folgen konnte, da auch sonst im ganzen Raum atemlose Stille herrschte, niemand umherlief oder mit Papieren raschelte, und alle, auch diejenigen, die nicht Deutsch verstanden, wie gebannt zu Stresemann hinsahen. So kam ich denn sehr gut mit meiner Arbeit voran. Ich habe überhaupt die Erfahrung gemacht, daß sich „Krach“ meistens leichter übersetzen läßt als vage Schalmeienklänge.
Von vielen Seiten hörte ich nach der Sitzung, daß Stresemanns Ausführungen die Grenze des politisch Möglichen gestreift hätten, daß sie aber doch in einer Form vorgebracht worden seien, die selbst bei Briand große Hochachtung für den Menschen Stresemann hervorgerufen hätte.
Während sich die Arbeit allmählich auf kleinere Gruppen und in die Hotelzimmer der Delegierten verschob, wurde die Kriegsschuldfrage noch auf einer Vollsitzung der Konferenz erörtert. Auch hierbei nahm Stresemann kein Blatt vor den Mund. Er hielt u. a. den Alliierten vor, daß sie selbst im Jahre 1919 den Eintritt des Reiches in den Völkerbund abgelehnt hätten, und betonte dann nachdrücklich, daß Deutschland zwar seine internationalen Verpflichtungen anerkenne, aber nicht in dem Sinne, daß es dabei eine moralische Schuld auf sich nehme. Ausdrücklich betonte Stresemann, daß die Reichsregierung ihre in der Kriegsschuldnotifizierung gemachten Erklärungen aufrechterhalte.
Wieder hatte ich den Eindruck, daß Stresemann bis an die Grenze des Möglichen gegangen war, und erwartete nach dem, was ich über dieses heikle Thema wußte, eine heftige Reaktion bei Briand und auch bei Chamberlain.
Mir war übrigens im Verlaufe der Konferenz wiederholt aufgefallen, daß Chamberlain sich Stresemann gegenüber außerordentlich kühl verhielt. Das mag an den persönlichen Gegensätzen der beiden Charaktere gelegen haben, denn man konnte sich tatsächlich keinen größeren Kontrast vorstellen als den starrnackigen Stresemann mit seinen lebhaften Augen und den hageren Engländer mit seinem unbeweglichen, monokelbewehrten Gesicht. Wenn Chamberlain überhaupt in Erregung geriet, was bei seinem „Fischblut“ selten genug vorkam, fuhr er lediglich mit den Händen wie eine Windmühle in der Luft herum. Aus manchen Äußerungen, die er im Laufe der Debatten und der Einzelgespräche tat, gewann ich den Eindruck, daß er nur sehr bedingt ein Freund Deutschlands war. Sein Herz gehörte Frankreich. Das sagte er auch ganz offen. Seine Delegation und andere Engländer behaupteten, er sei manchmal französischer als die Franzosen selbst.
Aber hier in der Kriegsschuldfrage schwiegen sowohl Briand als auch Chamberlain. Plötzlich aber meldete sich der belgische Außenminister, der Sozialist Vandervelde, zum Wort. Er war außerordentlich schwerhörig und trug auf der Brust als Hörhilfe ein kleines Mikrophon, dessen Rückkopplung manchmal bei den unpassendsten Gelegenheiten leise zu pfeifen begann, so daß sich die Umsitzenden erstaunt zu ihm umdrehten. Ich hatte mit Vandervelde insofern meine besondere Mühe, als er immer behauptete, ich spräche nicht laut genug. Oft bat er mich, beim Übersetzen unmittelbar neben seinen Platz zu treten, damit er besser verstehen könne, aber das genügte meistens auch noch nicht. Zum Zeichen, daß ich lauter sprechen sollte, hielt er sich die Hand ans Ohr und veranlaßte mich dadurch manchmal zum Vergnügen der übrigen Delegation, mit einer Stentorstimme auf ihn einzuschreien und ihm die delikatesten diplomatischen Formulierungen mit der Stärke eines Großlautsprechers in sein mikrophonbewehrtes Ohr zu brüllen. Erst dann lächelte er befriedigt hinter seinem dicken Kneifer und hatte den akustischen Anschluß an die Vorgänge auf der Konferenz wiedergewonnen.
Auch diesmal hatte ich mich neben ihn stellen müssen. Daß ich lauter sprach als sonst, fiel nicht weiter auf, denn Stresemann hatte es auch getan. „Herr Stresemann hat soeben die Frage aufgeworfen, wer den Krieg heraufbeschworen habe“, waren die ominösen Worte, mit denen der belgische Außenminister seine Ausführungen begann. „Aber das steht ja ganz deutlich im Versailler Vertrag“, fuhr er fort und erhöhte damit die über dem Raum lagernde Spannung außerordentlich. Jeder der Anwesenden fühlte, daß es zu einer Explosion kommen mußte, wenn Vandervelde so fortfuhr. Chamberlain trommelte nervös auf die Tischplatte. Er sah wohl bereits die Konferenz an der Kriegsschuldfrage scheitern. Als Vandervelde zu dem nächsten Satz ansetzte und dabei wieder mit dem Versailler Vertrag anfing, unterbrach ihn Chamberlain und sagte, daß Stresemann diese Frage keineswegs aufgeworfen habe. Jetzt mischte sich auch Briand ein, sichtlich in dem Bemühen, die Situation zu retten, und erklärte, soweit er verstanden habe, sei lediglich von dem Memorandum die Rede gewesen, das Deutschland zur Frage seines Eintritts in den Völkerbund nach Genf gerichtet habe. In diesem Dokument sei allerdings auch von der Kriegsschuld die Rede gewesen.
Stresemann nahm den Ball geschickt auf: er habe nur auf die Stelle in dem deutschen Völkerbundsmemorandum angespielt, in der wörtlich ausgeführt werde, daß Deutschland eine moralische Schuld nicht übernehme. Vandervelde, der die ganze Sache keineswegs mit der Absicht, Schwierigkeiten zu machen, aufgebracht hatte, sondern dessen Intervention mehr aus einer bei schwerhörigen Leuten gelegentlich in Erscheinung tretenden Unbeholfenheit heraus entstanden war, erklärte darauf, daß er zu dem Thema nichts mehr zu sagen habe! Das erleichterte Aufatmen der ganzen Konferenz war fast akustisch wahrnehmbar. Die Kriegsschuldfrage wurde danach nicht wieder angeschnitten. Durch ihr Schweigen hatten England und Frankreich meinem Gefühl nach die deutsche These anerkannt.
Auch über die Frage der Beteiligung an Völkerbundssanktionen, wenn Deutschland Mitglied der Genfer Institution geworden sei, wurde einige Tage später, nach gründlicher Vorarbeit der Juristen, auf einer Motorbootfahrt auf dem Lago Maggiore ein Kompromiß abgeschlossen. Diese Fahrt auf dem herrlich blauen See in der zauberhaften Landschaft der Südschweiz war alles andere als ein Vergnügungsausflug. Fast von Anfang an saßen die Außenminister in der Kabine und sprachen über sehr ernsthafte Dinge. Dabei kam auch nach langem Hin und Her ein Kompromiß über die Sanktionsbeteiligung zustande. Die Alliierten würden in einer offiziellen Note an Deutschland eine Auslegung des die Sanktionen betreffenden Artikels XVI der Völkerbundssatzung geben, in der sie ausdrücklich zusichern wollten, daß auf die militärische und geographische Lage Rücksicht genommen werden würde.
Damit waren in der Kriegsschuld- und in der Sanktionsfrage zwei große Schwierigkeiten, die dem Vertragsabschluß entgegenstanden, an Bord der „Orangenblüte“ aus dem Wege geräumt worden. Diese Fahrt war zum Teil unternommen worden, um den Außenministern Gelegenheit zu geben, einmal völlig ungestört durch die Presse, die im Rathaus und in den einzelnen Hotels ihre Schritte und ihre Mienen stets argwöhnisch überwachte, ungestört auch von allzu vielen technischen Mitarbeitern im freien Gespräch von Mann zu Mann die Grundprobleme zu erörtern.
Stresemann brachte auf dieser Fahrt unumwunden seine Ansicht zum Ausdruck, daß nach Abschluß des Locarno-Vertrages die Besetzung des Rheinlandes durch alliierte Truppen völlig überflüssig sei; der Schutz, den diese Besetzung darstellen sollte, sei ja durch den Vertrag und die Verpflichtungen, die Deutschland mit ihm übernehmen würde, sichergestellt. Er meldete hiermit erstmalig eine Forderung an, die erst viel später auf der Haager Konferenz im Sommer 1929 erfüllt wurde und die Räumung der besetzten Gebiete fünf Jahre vor dem im Versailler Vertrag vorgesehenen Datum zur Folge hatte. Noch eine ganze Reihe anderer deutscher Forderungen und Wünsche wurde auf dieser Fahrt erörtert. Dabei handelte es sich um die Räumung der Kölner Zone, Erleichterungen im Besatzungsregime und die Rückwirkung all dieser Abmachungen auf die Verhältnisse im Saargebiet, „wo die Abstimmung natürlich auch vorverlegt werden muß“, wie Stresemann erklärte. Auch die Wiederzulassung Deutschlands zur Zivilluftfahrt wurde hier zum ersten Male in vorsichtiger Form zur Sprache gebracht.
Briand reagierte nicht, wie man es hätte erwarten können, mit Heftigkeit auf diese für die damaligen Verhältnisse recht weitgehenden Wünsche. Er verhielt sich ausweichend. „Das ist eine recht kühne Wunschliste“, charakterisierte er seinen ersten Eindruck. Zur Regelung all dieser Fragen sei eine neue Konferenz notwendig, die