Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945 - Paul  Schmidt


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Veranstaltung vom Vorjahre in London aus, wo neben dem geräumigen Hauptsitzungssaal noch viele andere Räume zur Verfügung standen, wo die Dolmetscher ihre Plätze am großen Tisch unmittelbar neben ihren Delegierten hatten, wo die Sekretäre und Sachverständigen in Ruhe arbeiten konnten und sich der ganze technische Apparat einer solchen Zusammenkunft schon nach den ersten Stunden völlig eingespielt hatte.

      Hier in Locarno, das merkte man auf Schritt und Tritt, war man auf dem Lande. Es war fast rührend zu sehen, wie sich die Stadt, vom Bürgermeister bis zum geringsten Einwohner, bemühte, den Konferenzteilnehmern das Leben angenehm zu machen, und wie weit entfernt von diesem Ziele sie in den technischen Einrichtungen blieben.

      Rührend in seiner Einfachheit, aber gerade vielleicht deshalb um so überzeugender, wirkte inmitten dieser Versammlung der Großen Europas auch der Bürgermeister des kleinen Städtchens, der in wohlgesetzten Worten auf französisch die Teilnehmer begrüßte und sich dann unter vielem Lächeln und Händedrücken sichtlich voll Stolz über seine Teilnahme an dem historischen Augenblick zurückzog.

      Nun waren die Staatsmänner unter sich, denn die Besprechungen fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Einen Vorsitzenden gab es nicht. Chamberlain hatte nur im Namen der Konferenz dem Bürgermeister gedankt. Von da ab fanden die Beratungen trotz des viereckigen Tisches im Stile einer englischen „Round Table“-Konferenz als ein Gespräch völlig gleichberechtigter Teilnehmer statt. Ohne Umschweife würde die sachliche Aussprache über die einzelnen Artikel des von den Juristen in London vorbereiteten Vertragsentwurfes begonnen. Luther und Stresemann benutzten sofort die Gelegenheit, deutsche Abänderungsvorschläge vorzubringen und kurze Begründungen dafür abzugeben. Es verlief alles sehr nüchtern und geschäftsmäßig. Selbst bei den Punkten, über die in den nächsten Tagen noch recht erregte Aussprachen stattfinden sollten, kam es zu keinen Zwischenfallen.

      Dabei handelte es sich einmal um die Frage, in welcher Weise der Osten, d. h. Polen und die Tschechoslowakei, in das Sicherheitssystem eingeschaltet werden sollten. Vor allem in Polen waren gegen den Rheinpakt erhebliche Bedenken laut geworden. Deutschland wollte unter keinen Umständen die viel umstrittene Ostgrenze mit dem polnischen Korridor und die Gebietsabtretungen in Oberschlesien formell anerkennen, wie es dies in seinem Angebot vom 9. Februar mit der Westgrenze getan hatte. Das hatten die Polen natürlich herausbekommen. Die polnische Presse tobte, das polnische Parlament protestierte, und das polnische Auswärtige Amt hatte sich um Hilfe an seinen Verbündeten Frankreich gewandt. Es lag also reichlicher Zündstoff in diesem Problem. Aber am ersten Tage kam es noch zu keiner Explosion. Briand bemerkte nur mit sarkastischem Lächeln, daß dieses Ostproblem der erste rheumatische Anfall sei, den die Konferenz erleide.

      Eine weitere große Schwierigkeit war der von den Alliierten geforderte Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Damit in Zusammenhang stand die Kriegsschuldfrage, die die deutsche Delegation schon auf der Londoner Konferenz hatte vorbringen wollen. Sie war schließlich vor Annahme der Dawes-Gesetze unter recht aufregenden Umständen in einer Erklärung der Reichsregierung vorgebracht worden, in der es hieß, daß „die uns durch den Versailler Vertrag unter dem Druck übermächtiger Gewalt auferlegte Feststellung, daß Deutschland den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt habe, den Tatsachen der Geschichte widerspricht. Die Reichsregierung erklärt daher, daß sie diese Festlegung nicht anerkennt.“

      Kurz vor Abreise der deutschen Delegation nach Locarno wurde die Auffassung der Reichsregierung in dieser Frage den anderen Ländern noch offiziell zur Kenntnis gebracht, wodurch die Konferenz selbst fast in Gefahr geraten wäre. „Es kann kein Zweifel sein“, erklärte die deutsche Regierung, „daß überall da„ wo bei den politischen Auseinandersetzungen so grundlegende Fragen wie der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zur Erörterung gelangen, der Standpunkt zu wahren ist, daß Deutschland niemals einen politischen Akt vollziehen kann, der als Anerkennung irgendwelcher eine moralische Belastung des deutschen Volkes in sich schließender Feststellungen anzusehen wäre. Das wird … bei einem etwaigen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, aber auch dann, wenn es nicht dazu kommen sollte, den Signatarmächten des Versailler Vertrages, denen gegenüber die jetzige mit den bevorstehenden Verhandlungen zusammenhängende Erklärung nicht abgegeben ist, unmittelbar zum Ausdruck gebracht werden. Das ist nichts anderes als ein selbstverständlicher Ausdruck der Überzeugung, daß sich die Mitglieder der Völkerbundsgemeinschaft nicht nur äußerlich, sondern auch moralisch als gleichberechtigt anerkennen müssen, wenn sie das Friedensziel des Völkerbundes verwirklichen wollen.“

      Das war der reichlich explosive Hintergrund der ‚Erwähnung dieser Frage hier auf der ersten Sitzung. Als sich Stresemann zu diesem Punkt äußerte und gerade das Wort „Kriegsschuldfrage“ aussprach, hustete jemand in meiner Nähe, so daß mir die folgenden Worte des deutschen Außenministers unverständlich blieben. Auf sie aber kam es in diesem Augenblick ganz besonders an. Es handelte sich darum, ob er diese Frage jetzt zur Diskussion stellen wollte, oder ob sie etwa, wie in London, wieder vertagt werden würde. Ich befand mich in einer scheußlichen Lage. Irgend jemanden fragen konnte ich natürlich in der Eile nicht. Hätte ich meine französische Übersetzung unterbrochen und Stresemann, der ein ganzes Stück vor mir saß, schnell noch einmal gefragt, wäre die Aufmerksamkeit der ganzen Konferenz gerade auf diesen delikaten Punkt gelenkt worden, der möglicherweise – und hier stand mir sekundenlang die Szene mit den aufgeregt diskutierenden drei deutschen Delegierten in der Schlußsitzung in London vor Augen – jetzt, im Anfangsstadium der Besprechungen, nur sehr vorsichtig und andeutungsweise vorgebracht werden sollte. Ich nahm also mein Herz in beide Hände und sagte auf französisch die Worte so, wie ich nach meiner Kenntnis der Sachlage glaubte, daß sie Stresemann gebraucht hätte, d. h. ich gab eine Ankündigung der deutschen Stellungnahme zu dem Problem. Scharf beobachtete ich dabei Stresemann und Luther von hinten. Jeden Augenblick darauf gefaßt, daß sie sich wütend nach mir umdrehen würden, und daß es einen Eklat mit mir geben würde, ähnlich dem, dem der arme Michaelis in London zum Opfer gefallen war.

      Aber es geschah nichts. Stresemann qualmte ruhig dicke Wolken aus seiner Zigarre, und Briand rief lediglich spöttisch, aber nicht weiter erregt über den Tisch: „Hoffentlich bekommen wir davon keinen Schlaganfall.“

      Diese Zwischenrufe Briands charakterisierten die ungezwungene Atmosphäre, die damals unter den Großen Europas am Konferenztisch von Locarno herrschte und die viel dazu beitrug, auch den umstrittensten Fragen ihre Schärfe zu nehmen. Der heitere Spott, mit dem viele Klippen in Locarno umschifft wurden, ging fast immer von Briand aus, der sich nicht etwa nur gegen die Deutschen wandte, sondern auch den steifen Austen Chamberlain genau so aufs Korn nahm wie Stresemann und Luther. „Wenn Sie noch weiterreden, werden wir alle anfangen zu weinen!“, hatte er einmal in einer Vollsitzung zu Luther gesagt, als dieser in seiner etwas formellen Beamtenart über die schwierigen Verhältnisse in Deutschland berichtete. Luther hatte sich dabei ärgerlich zu Briand umgedreht, und dieser machte ein so komisch erschrockenes Gesicht, daß Stresemann darüber in laut schallendes Gelächter ausbrach und sich nun seinerseits von Luther einen mißbilligenden Blick zuzog. Briand bestimmte den Ton und die Atmosphäre dieser Tage und trug meinen Beobachtungen nach gerade dadurch viel zum Gelingen des Werkes bei.

      Leicht „angeschlagen“ sank ich nach diesem gefahrlichen Intermezzo in der Übersetzung der Kriegsschuldfrage wieder auf meinen Platz und war heilfroh, daß sämtliche Punkte, die in dieser Sitzung von den deutschen Delegierten vorgebracht worden waren, nicht weiter diskutiert, sondern den juristischen Sachverständigen überwiesen wurden.

      In seinem ausgezeichneten, aber mit stark englischem Akzent vorgetragenen Französisch erklärte Chamberlain: „Irgend jemand muß ja auf dieser Konferenz arbeiten, also lassen wir die Juristen arbeiten, laissons travailler les juristes.”

      Dieser Ausspruch, der für viele Konferenzen als Motto gelten könnte, wurde in den nächsten Tagen noch oft von mehreren Seiten wiederholt. Trotzdem aber ruhten auch die Außenminister nicht. Schon am nächsten Tage, nachdem wegen einer Erkältung Stresemanns die Vormittagssitzung auf den Nachmittag verschoben werden mußte, begann eine große Diskussion zwischen Briand und Stresemann über die polnische und tschechoslowakische Frage.

      Geschickt schob Stresemann gleich zu Beginn die Initiative Briand zu mit der Begründung, daß Deutschland zu diesem Punkt keinerlei Vorschläge eingebracht habe. So nahm denn


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